Müllverbrennung: Seit aus Abfall Strom und heiße Luft wird
Im 19. Jahrhundert wächst Hamburgs Bevölkerungszahl rasch und ein Problem eskaliert - die Abfallentsorgung. Am 1. Januar 1896 beginnt eine neue Ära: Hamburg nimmt als erste Stadt auf dem Kontinent eine Müllverbrennungsanlage in Betrieb.
Schon 1892 hatte der Senat der Bürgerschaft einen Antrag zur "Erbauung einer Verbrennungsanstalt für Abfallstoffe" vorgelegt. Doch damals wird das Thema erstmal an einen Ausschuss verwiesen. Denn zunächst sind viele Bürger dagegen, Müll und Unrat einfach zu verbrennen.
"Scherben, Conservenbüchsen, Stücke von Reifröcken"
Da sind zum einen die Landwirte, die die Hinterlassenschaften der Städter jahrhundertelang gerne als Dünger auf ihre Felder kippten. Doch diese Verfahrensweise wird mit der sprunghaften Industrialisierung in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts immer problematischer, wie Hildegard Frilling und Olaf Mischer in ihrem Buch "Pütt un Pann'n" berichten, das die Geschichte der Müllentsorung in Hamburg beleuchtet. Denn die Abfallmengen, die sich in Hamburg inzwischen anhäufen, sind so groß, dass die Landwirtschaft sie kaum noch aufnehmen kann und es sind Deponien zur Zwischenlagerung notwendig.
Außerdem enthält der Abfall aus der Stadt längst nicht mehr so einen großen Anteil an Fäkalien, seit Hamburg Mitte des 19. Jahrhunderts ein Abwasser-Sielsystem erhielt. Damit geht einher, dass im Müll weniger als Dünger geeignetes Material enthalten ist, sondern mehr und mehr Gegenstände, die "den Acker nur zu schädigen geeignet sind. Scherben, Conservenbüchsen, Stücke von Reifröcken, von Sprungfedern, zerbrochene Kämme und dergleichen". Trotzdem: Viele Bauern sind gegen die Müllverbrennung und wollen nicht auf den billigen Dünger verzichten.
Probleme mit ersten Verbrennungsanlagen in England
Andere Gegner des Verfahrens berufen sich auf Probleme in England: Dort, wo die Industrialisierung Jahrzehnte früher als in Deutschland begonnen hatte, wird schon seit den 1870er-Jahren in mehreren Städten Abfall verbrannt. Allerdings sind die Anlagen anfangs nicht ausgereift und es gibt viel Ärger durch Gestank, giftige Abgase und Ascheregen.
Cholera zwingt Hamburg zum Umdenken
Doch in den 1890er-Jahren ist die Technik fortgeschritten und in England werden Anlagen gebaut, die viel weniger Emissionen verursachen sollen. In Hamburg wiederum ereignet sich im weiteren Verlauf der Jahres 1892 eine Katastrophe, die den Stadtvätern deutlich macht, dass sie das Thema Abfallentsorgung nicht länger vor sich her schieben können: In der Stadt bricht eine Cholera-Epidemie aus. Mehr als 16.000 Hamburgerinnen und Hamburger infizieren sich binnen weniger Wochen, mehr als die Hälfte von ihnen stirbt. Mit Schuld an der raschen Cholera-Ausbreitung sind offensichtlich die teils erbärmlichen hygienischen Zustände. Der von der Reichsregierung nach Hamburg entsandte Experte Robert Koch soll nach seiner Visite an Orten wie dem Gängeviertel geäußert haben: "Ich vergesse, dass ich mich in Europa befinde."
MVA-Probebetrieb beginnt 1894
Gleich nach Ende der Cholera-Epidemie legt der Senat der Bürgerschaft einen neuen Antrag zum Bau einer Müllverbrennungsanlage (MVA) vor. Doch erstaunlicherweise sind die Widerstände nach wie vor groß. Erst ein Dreivierteljahr später stimmen die Abgeordneten zu. Dann allerdings geht der Bau rasch voran. 1894 stehen die ersten Öfen und erste Brennversuche können beginnen. In Hamburg soll der Müll nach dem Modell der Horsfall-Öfen aus England verbrannt werden. Diese erreichen durch Zuführung von warmer Luft höhere Verbrennungstemperaturen als die bis dahin eingesetzten Öfen. Dadurch steigt die Effektivität - und es entsteht weniger Rauch.
Betriebsstart 1896: Erzeugte Energie dient Anlagen-Betrieb
Die komplette Anlage kostet rund eine halbe Million Reichsmark. Am 1. Januar 1896 geht der Neubau am Bullerdeich im Südosten der Stadt in den Regelbetrieb. Die mit dem Dampf erzeugte Energie dient dem Betrieb der Anlage. Etwa für die Beleuchtung, den Kran und das Gebläse. Die bei der Verbrennung zurückbleibende Schlacke wird zum Straßenbau verwendet, sie ist nach der Abkühlung hart wie Glas. Eisenreste werden mithilfe eines Magneten von der Schlacke getrennt und verkauft. Ein weiteres Verbrennungsprodukt ist die Flugasche. "Sie hatte allerdings Vor- und Nachteile. Besonders geschätzt war ihre Dämmwirkung als Füllmaterial in Decken- oder Wandzwischenräumen. Andererseits gelangte ein Teil davon über den Schornstein in die Luft", heißt es in einer Festschrift der Hamburger Stadtreinigung zum 100. Jahrestag der Inbetriebnahme. Und weiter:
Die Verbrennungshalle bestand aus zwei Ebenen. Auf der oberen, der Ofenplattform, arbeiteten die so genannten "Stopfer". Sie schaufelten den Müll in die Einschüttöffnungen, nachdem die Ofenarbeiter in der unteren Ebene die Schlacke, Restprodukt der vorher verbrannten Müllmenge, entfernt hatten. Insgesamt 36 Ofenzellen verbrannten den Hausmüll von rund einer halben Million Einwohnern. Anja Nabasik, Adolf Nottrodt: 100 Jahre Müllverbrennung in Hamburg. Herausgeber: Stadtreinigung Hamburg. Hamburg, 1996.
"Hie Entpestung, dort Verpestung!"
Die Umweltbelastung durch die MVA scheint durchaus groß gewesen zu sein. Die Hamburger Müllhistorie "Pütt un Pann'n" zitiert aus einem damaligen Beitrag der Zeitschrift "Norddeutscher Gastwirt":
Hoffentlich wird nicht vergessen, auch des pestilenzartigen Gestanks zu gedenken, den der Rauch der Anstalt in weitem Umkreis verbreitet. So daß den Bewohnern, wenn die Windrichtung den Rauch auf ihre Häuser zutreibt, das Öffnen ihrer Fenster unmöglich gemacht wird. Hie Entpestung, dort Verpestung! Der niederschlagende Rauch enthält so viele scharf beizende Aschenteile, dass ganze Strecken davon dicht überschüttet sind und die Gemüse in den Gärten ungenießbar werden. Hildegard Frilling, Olaf Mischer: Pütt und Pann'n. Geschichte der Hamburger Hausmüllbeseitigung. Hamburg, 1994.
45.000 Tonnen Müll gehen im ersten Jahr durch den Schlot
Im ersten Jahr verbrennt die MVA rund 45.000 Tonnen Müll - bis 1914 steigt die Menge bis auf beinahe das Doppelte. Doch trotzdem muss Hamburg seinen Abfall auch weiterhin deponieren. Das geschieht im großen Stil: Müll dient zum Trockenlegen von Sumpfgebieten oder zum Auffüllen ausgebeuteter Tongruben, wie in Lokstedt, Fuhlsbüttel und Groß Borstel.
Schon wenige Tage nach Aufnahme des Regelbetriebes der Müllverbrennungsanlage zeigt sich allerdings, dass dass geplante Zwei-Schicht-System für die Arbeiter nicht ausreicht, da so nicht der gesamte angelieferte Müll verfeuert werden kann. Es wird eine dritte Schicht eingeführt. Die Arbeiter dürfen "während der Arbeitsstunden den Posten nicht verlassen, können aber eine Erfrischung an Ort und Stelle zu sich nehmen", schreibt damals ein Ingenieur.
Weitere Anlagen kommen hinzu
Die Anlage am Bullerdeich verbrennt vor allem die Abfälle aus den östlichen Stadtteilen. Der Müll aus Hamburgs Norden wird nach wie vor auf gepachteten Plätzen außerhalb der Stadt abgeladen - und es gibt viele Beschwerden wegen herumliegenden Unrats. 1907 stimmt die Bürgerschaft dem Bau einer zweiten Verbrennungsanlage zu. Sie wird am Alten Teichweg in Barmbek gebaut und 1912 offiziell in Betrieb genommen. Befüllt werden die Öfen dort nicht mehr wie am Bullerdeich von Hand, sondern mithilfe einer hydraulischen Vorrichtung. In den folgenden Jahrzehnten kommen weitere Anlagen hinzu - zum Beispiel in der Ruhrstraße in Altona und in der Borsigstraße. Alte Anlagen werden teils abgerissen und neu gebaut, manche Standorte werden auch aufgegeben.
Heute wird 15 mal mehr Müll verbrannt als 1896
Aus der jüngsten Bilanz geht hervor, dass die beiden aktuellen Anlagen in der Borsigstraße und am Rugenberger Damm im Jahr 2019 insgesamt rund 680.000 Tonnen Müll "thermisch verwertet" - also verbrannt - haben. Die freiwerdende Energie geht vor allem in Hamburgs Fernwärme-Netz. Die Zahlen sind zwar nicht direkt vergleichbar, weil inzwischen auch Müll aus dem Umland in die Hamburger MVA kommt. Aber die Müllmenge, die heutzutage in den Öfen landet, ist 15 mal größer als im Jahr 1896, als die erste MVA in Betrieb ging. Dabei hat sich die Bevölkerungszahl seitdem nur etwa verdreifacht.