Als die Pest den Tod nach Hamburg brachte
Die ersten Leichen finden sie ganz in der Nähe der St. Michaeliskirche. Große dunkle Beulen haben die Toten am Hals und in der Leistengegend. Der Anblick versetzt die Menschen in Angst und Schrecken. Denn die Leichen im Gerkenshof sind das todsichere Zeichen: Die Pest hat Hamburg erwischt. Es ist der Herbst des Jahres 1712. Die Einwohner wissen, dass ihnen eine schwere Zeit bevorsteht. Seit dem Trauma des "Schwarzen Todes" im Mittelalter kommt die Seuche alle paar Jahrzehnte in die Hansestadt und rafft einige Hundert von ihnen dahin. Doch die Hamburger ahnen noch nicht, dass sie diesmal der schlimmste Pestausbruch der Neuzeit erwartet.
Isolation der Kranken
Den Gerkenshof gibt es heute nicht mehr. Aber Stadtführerin Wiebke Johannsen kennt die Stelle, wo vor 300 Jahren die ersten Toten gelegen haben sollen. Im Nieselregen steht sie in der Böhmkenstraße in Hamburgs Neustadt. "Hier war eine schmale, düstere Gasse, eine Armeleute-Gegend." Wahrscheinlich hausten dort Hafenarbeiter. Johannsen erzählt: "Der Gerkenshof wurde nach den ersten Pest-Anzeichen auf einer Seite mit Brettern vernagelt, auf der anderen Seite wachten Soldaten." Hamburg will das Pest-Problem durch Isolation der Kranken eindämmen. Für die Infizierten gibt es damals kaum Hoffnung: In einem ärztlichen Bericht aus dem November 1712 heißt es, dass in den folgenden Wochen alle 53 Bewohner des Gerkenshofes an der Pest erkranken. 18 sterben.
Hunger größer als die Angst vor der Pest?
Die Abriegelung funktioniert allerdings nicht. Laut einem weiteren Arztbericht von damals gelangen zusätzliche Personen in den Gang, "welche sich wohl wegen des guten Essens und Trinkens, so die Versperrten bekommen, über die Dächer hineinpractisiert". Offenbar ist die Not mancher Menschen so groß, dass sie nicht einmal die todbringende Seuche abschreckt, wenn es etwas zu holen gibt. In den kommenden Wochen ertönen auch in anderen Armenvierteln die Schmerzensschreie der Erkrankten. Die Stadt kann die Ausbreitung der Pest nicht mehr aufhalten.
Seit Jahren wütet die Seuche bei Hamburgs Nachbarn
Die Menschen in Hamburg hatten spätestens seit 1709 Angst, dass etwas auf sie zukommt: Seit Jahren liefern sich Schweden und Dänen einen blutigen Krieg um die Herrschaft im Ostseeraum. Und nicht nur auf den Schlachtfeldern sterben die Menschen: Die Pest breitet sich aus im Gefolge des Großen Nordischen Krieges. 1709 erwischt es Danzig. In Hamburg reagiert man alarmiert: Der Rat beschließt ein Handelsverbot mit "verdächtigen Ländern", etwa Preußen und Polen. Stadtführerin Johannsen erzählt, dass das "Pest-Mandat" auch den Handel mit "giftfangenden Waaren" verbietet - dazu gehören Altkleider, Betten, Federn, Haare, Pelze.
Die Hiobsbotschaften aus anderen Städten reißen nicht ab: 1711 wütet die todbringende Seuche in Kopenhagen. Wohl von dort verbreitet sich die Krankheit nach Schleswig-Holstein. Dann sterben die Menschen in Bremen, Stade, Rellingen und Pinneberg. 1712 ist die Lage in Hamburg aufs äußerste gespannt. In der Nachbarstadt Altona lagern 12.000 dänische Soldaten - auch sie stehen unter Pest-Verdacht. Im Sommer lässt Hamburg das westliche Stadttor, das Millerntor, schließen. Nur noch das Nötigste an Waren und wichtige Personen dürfen passieren. Es ist auch ein Schlag gegen die jüdische Bevölkerung in Altona. Denn die Juden dürfen Hamburg einzig durch das Millerntor betreten.
Der Schwarze Tod - Geißel seit dem Mittelalter
Die Pest ist seit dem Mittelalter neben Hunger und Krieg die am meisten gefürchtete Plage. Im 14. Jahrhundert, als die schlimmste Pandemie aller Zeiten umgeht, stirbt jeder dritte Europäer an der Pest und den Folgen. 1350 hatte die Krankheit, wohl aus Asien eingeschleppt, Norddeutschland erreicht - zuerst die großen Hansestädte mit ihren weitreichenden Handelsverbindungen. Niemand kennt damals die Ursache für den Schwarzen Tod, der sich rasend schnell ausbreitet. 300 Jahre später haben christliche Reformation und Buchdruck bereits die Grundlagen für das Zeitalter der Wissenschaft gelegt. Es ist der Vorabend der Aufklärung. Doch auch zum Beginn des 18. Jahrhunderts ist die Pest den Menschen ein Mysterium. Miasmen, also stinkende Luft oder krankmachende Ausdünstungen, halten selbst Gelehrte für den Auslöser. Und Gestank hat Hamburg genug zu bieten. Die Pestärzte versuchen, sich mit einer Art Schnabelmaske vor Ansteckung zu schützen. Sie atmen durch Tücher hindurch, die mit ätherischen Ölen getränkt sind. Dass die Pest durch Flöhe verbreitet wird, weiß zu dieser Zeit noch keiner.
Handelsfreiheit oder Seuchenhygiene?
Durch den Ausbruch der Seuche 1712 steht Hamburg vor einem Dilemma: Je schärfer die Maßnahmen gegen die Ausbreitung, desto offensichtlicher würde für die Handelspartner in aller Welt, dass die Stadt "verpestet" ist und man sich vor Kontakt hüten sollte. Die Historikerin Kathrin Boyens kommt zu dem Schluss, dass Hamburg sich für eine Begünstigung des Handels auf Kosten der Seuchenhygiene entscheidet: "Um die Bewegungsfreiheit der Kaufleute möglichst wenig einzuschränken, verzichten die hamburgischen Stadtväter zum Beispiel auf eine Quarantäne für Personen und Waren, obwohl dies zur Pestabwehr andernorts durchaus üblich war."
Nordischer Krieg: Hamburg gerät zwischen die Fronten
Hamburg steht in dieser Zeit laut Boyens vor großen Gefahren von außen: Als erstes profitieren die Dänen von der Schwäche der Hansestadt. Sie blockieren von Altona aus Hamburgs Schifffahrt und wüten in den Landgebieten wie Hamm und Billwerder. Im November 1712 kauft sich Hamburg frei. 250.000 Reichsthaler wechseln den Besitzer, die Dänen ziehen ihre Truppen ab. Das wiederum lässt Schweden eine Verschwörung mit dem Erzfeind wittern - es fordert die gleiche Summe von den Hamburgern. Nachdem die Schweden im Januar kurz vor einer Invasion stehen und das dänischen Altona in Brand setzen, zahlt Hamburg. Und noch eine Großmacht hält sich an der pestgeschwächten Stadt schadlos: Russland. Dessen Truppen plündern auf einem Durchmarsch so lange die Landgebiete, bis Hamburg im Mai 200.000 Reichsthaler zahlt.
40 Totengräber und Todesstrafe gegen Plünderer
Die Pest in Hamburg erreicht ihren Höhepunkt 1713. Im heutigen St. Pauli besitzt die Stadt seit 1606 einen Pesthof, der als Behandlungsstätte für Erkrankte dienen soll. Doch wegen der Schließung des Millerntores kann dieses Spital kaum genutzt werden. Hamburg lässt vier weitere Lazarette errichten. Dort werden Infizierte aufgenommen, die aus ihren Wohnstätten heraus müssen. Zum Beispiel Mägde und Knechte, die von ihrer Herrschaft vor die Tür gesetzt werden, sobald sie Anzeichen einer Infektion zeigen. Stadtführerin Johannsen berichtet, dass Hamburg zum Höhepunkt der Epidemie sechs städtische Pestärzte beschäftigt, 30 "Pflegeweiber", zwei Pestprediger, ebensoviele Pesthebammen, vier "Lieger", die Plünderungen verhindern sollen - und 40 Totengräber. Und offenbar ist es notwendig, den städtischen Bediensteten strenge Regeln zu geben:
Glockengeläut und Freudensalven - Gott sei Dank, es ist vorbei!
Vor dem Dammtor entsteht ein Massengrab, der Pesthügel. Für die Totengräber gibt es viel zu tun: Fast 11.000 Hamburger erliegen der Seuche - etwa jeder siebte Einwohner kommt ums Leben. Dann endlich - im Winter 1713/14, ebbt die Epidemie ab. Die Hamburger danken dem Lieben Gott. Dass der Winter oft das Ende eines Pestzuges bedeutet, weil sich dann die krankheitsübertragenden Flöhe nicht mehr vermehren, wissen die Menschen damals noch nicht. Am 22. März 1714 feiern die Überlebenden mit einem Gottesdienst in St. Petri die überstandene Pest. Alle Glocken der Stadt läuten, die festlich beflaggten Schiffe feuern Freudensalven ab.