75 Jahre SSW - "Dänenpartei" gibt Minderheit eine Stimme
Seit dem 25. Juni 1948 vertritt der Südschleswigsche Wählerverband die Interessen der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein. Die Partei ist im Kieler Landtag etabliert. Dort fand zum 75-jährigen Bestehen nun ein Festakt statt.
Auf Anordnung der britischen Militärregierung wird der Südschleswigsche Wählerverband (SSW) 1948 als politische Interessenpartei der dänischen Minderheit gegründet. Die nationalen Friesen in Nordfriesland schließen sich der Vertretung an. Ursprüngliches Ziel des SSW ist ein eigenständigen Bundesland Südschleswig und der Anschluss an Dänemark. Doch auf Druck der Briten muss der SSW in seinem Parteiprogramm auf die Forderung nach einer Grenzverschiebung verzichten. Anfang der 1950er-Jahre verliert die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung mit dem Nachbarn im Norden an Bedeutung. Der SSW vertritt nicht nur die kulturellen und sozialen Interessen seiner Klientel, sondern setzt sich auch für andere Minderheiten wie Roma und Sorben ein. Darüber hinaus engagiert er sich neben regionalen auch für gesellschaftspolitische Themen. Viele Jahre verhält sich der SSW den anderen Parteien gegenüber neutral. Das ändert sich erst Anfang der 2000er-Jahre.
Starker Zulauf für Südschleswigschen Verein nach dem Krieg
Vorläufer des SSW ist der Südschleswigsche Verein, der Dachverband der dänischen Volksgruppe etabliert sich in den 1920er-Jahren - mit damals rund 8.000 Mitgliedern. Während des Zweiten Weltkrieges schwinden die Mitgliederzahlen, zum Kriegsende sind es lediglich 2.728. Doch in den Nachkriegsjahren erlebt die dänische Volksgruppe einen starken Zulauf. Der Südschleswigsche Verein tritt für eine Volksabstimmung in Südschleswig ein. Ziel ist die Abtretung des Gebietes an Dänemark. Es entsteht eine regelrechte Neudänische Bewegung - bei der Landtagswahl 1947 bekommt der Schleswigsche Verein etwa 99.000 Stimmen (9,3 Prozent). In der Folge gründen sich mehr dänische Schulen, die zum Beispiel kostenlose Schulspeisungen anbieten. Und die Zahl dänischer Muttersprachler wächst. Den Wunsch einer Wiedervereinigung mit Dänemark hegen damals auch viele Deutsche, die damals abwertend als "Speckdänen" bezeichnet werden. Sie erhoffen sich durch einen Anschluss an Dänemark zum Beispiel eine bessere Ernährungslage: Grundnahrungsmittel wie Kartoffeln und Milch sind trotz vieler landwirtschaftlicher Betriebe knapp.
Britische Militärregierung ordnet 1948 Gründung des SSW an
Denn Schleswig-Holstein erlebt in den Nachkriegsjahren einen gewaltigen Zustrom von Flüchtlingen und Vertriebenen. Die Bevölkerung wächst schlagartig um über eine Million auf rund 2,7 Millionen Menschen. Die Vertriebenen stellen damals rund ein Drittel der Bevölkerung. Es fehlen Wohnungen, Lebensmittel und Arbeitsplätze. Doch auf die politische Forderung des Südschleswigsche Vereins nach einer Wiedervereinigung geht Dänemark nicht ein. Und auch die britischen Besatzer lehnen jeglichen Separatismus ab. Eine Wiedervereinigung ist damit vom Tisch.
Die Besatzungsbehörde nimmt allerdings den Erfolg des Schleswigschen Vereins wahr. Die Vertretung der dänischen Minderheit soll unter gleichen Bedingungen wie die anderen deutschen Parteien arbeiten - ohne Support und enge Verbindungen aus dem Ausland. Und so ordnet die britische Militärregierung 1948 die Gründung des SSW an, um die Interessen der dänischen und friesischen Minderheit (Südschleswiger) zu vertreten. Gründungstag ist der 25. Juni 1948, Gründungsort ist Schleswig.
Hermann Clausen schafft 1949 den Sprung in den Bundestag
Inhaltlich und personell bleibt der SSW zunächst eng mit seinem Vorgänger verknüpft: Im Landtag wird die neue Partei durch sechs Abgeordnete der dänischen Minderheit vertreten. Sie hatten bei der Landtagswahl 1947 rund 33 Prozent der Stimmen im Landesteil Schleswig erhalten. Bei den Kommunalwahlen 1948 kommt der SSW im Landesteil Schleswig aus dem Stand auf 26 Prozent der Stimmen. Ein Jahr später gelingt es der Partei sogar bei der Bundestagswahl, ein Mandat in Bonn zu gewinnen. Als fraktionsloser Abgeordneter zieht Hermann Clausen über die SSW-Landesliste in den Bundestag ein. Bis 1946 gehörte er der SPD an, wegen des nationalen, anti-dänischen Kurses unter Schuhmacher trat er aus und 1948 dem SSW bei. Der Sohn eines Bauers setzt sich zeit seines Lebens für die Arbeiterbewegung und eine demokratische Gesellschaft ein.
Fünf-Prozent-Klausel: Eine hohe Hürde für den SSW
Anfang der 50er-Jahre nimmt der Höhenflug des SSW ab, die Wahlergebnisse pendeln sich auf einem niedrigeren Niveau ein. Bei der Landtagswahl 1950 verliert die Minderheitenpartei überproportional viele Stimmen, wie auch die anderen etablierten Parteien SPD und CDU. Ein Großteil der Stimmen wandert zum Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten, kurz BHE, ab. Die Vertriebenenpartei tritt erstmals an und holt 23,4 Prozent der Stimmen. Im gleichen Jahr wird das Wahlverfahren geändert und eine Sperrklausel von fünf Prozent eingeführt. Da der SSW nicht landesweit kandidiert, scheint die Hürde hoch. Trotzdem schafft die Partei bei der Wahl mit dem Ergebnis von knapp 5,5 Prozent den Sprung in den Landtag. Der SSW erhält vier Sitze, zwei davon erreicht über Direktmandate.
Eine Legislaturperiode ohne SSW im Kieler Landtag
Nach der Bundestagswahl 1953 scheidet Hermann Clausen aus dem Bundestag aus. Der SSW hatte die nötigen Stimmen für einen Sitz im Parlament nicht zusammenbekommen. Noch dicker kommt es 1954: Bei der Landtagswahl erreicht die Minderheitenpartei weder ein Direktmandat noch nimmt sie die Fünf-Prozent-Hürde. Mit nur 3,5 Prozent scheitert der SSW am Quorum. Auch der juristische Weg ist nicht von Erfolg gekrönt - das Bundesverfassungsgericht gibt einer Klage der Partei gegen das Wahlgesetz nicht statt: "Der SSW beansprucht eine Sonderbehandlung, weil er die Partei einer nationalen Minderheit sei und sein Tätigkeitsgebiet auf einen Teil des Landes beschränke. Dieses Verlangen ist nicht berechtigt", heißt es in der Rechtsprechung des BVerfGE 4, 31.
Bonn-Kopenhagener Erklärungen: Sperrklausel für SSW fällt
Die Partei verliert damit ihre politische Vertretung in Kiel. In der Folge konzentriert sie sich auf die Gemeinden als wichtigstes Betätigungsfeld. Doch 1955 wendet sich das Blatt für den SSW wieder: Im Zuge der Bonn-Kopenhagener Erklärungen, die den Schutz der Minderheiten auf beiden Seiten der Grenze zum Inhalt haben, wird die Partei von der schleswig-holsteinischen Regierung von der Sperrklausel befreit. 1958 ziehen Samuel Münchow und Berthold Bahnsen mit einem Stimmenanteil von 2,8 Prozent wieder in den Kieler Landtag ein. 1962 wird mit Friese Bahnsen nur ein Abgeordneter ins Landesparlament gewählt.
Trotz des Sonderstatus verliert der SSW weiter an Stimmen. Bei Bundestagswahlen tritt der SSW schon seit Anfang der 60er-Jahre nicht mehr an. Und bei der Landtagswahl 1971 erreicht er mit 19.720 Stimmen gerade mal 1,4 Prozent. Ein absoluter Tiefststand.
Karl Otto Meyer gibt dem SSW in den 70ern ein Gesicht
Das Gesicht des SSW ist Anfang der 70er-Jahre Karl Otto Meyer. Er hat den Vorsitz der Partei seit 1960 und sitzt von 1971 bis 1992 als einziger SSW-Abgeordneter im schleswig-holsteinischen Landtag. In seinen Amtszeiten setzt er sich für die Erhöhung der staatlichen Zuschüsse für die Schulen der dänischen Minderheit ein. Doch er macht nicht nur Lobbyarbeit für die Interessen Südschleswigs, er prägt er den SSW auch in landespolitischen Fragen. Als Chefredakteur der deutsch-dänischen Zeitung "Flensborg Avis" zieht Meyer politisch wie medial die Strippen. Lange steht der SSW politisch zwischen CDU und SPD. Unter Meyers Ägide rückt der SSW im politischen Spektrum eher nach links. Sein Vorbild ist das sozialstaatliche Prinzip der skandinavischen Nachbarländer. "Für die dänische Minderheit wurde er jedoch nicht zuletzt während der Barschel-Affäre 1987 zum "unbestechlichen" Helden", heißt es beispielsweise in einem rückblickenden Beitrag in "Der Nordschleswiger" vom Dezember 2018. Bei der Landtagswahl im selben Jahr weigert sich Meyer in einer Pattsituation, einem CDU-Kandidaten seine Stimme zu geben. Das führt 1988 zu Neuwahlen.
1996 scheidet Meyer aus dem Landtag aus. In einem Vierteljahrhundert hat er einer Pro-Dänemark-Bewegung den Weg zu einer südschleswigschen Regionalpartei geebnet - und eine solide Basis für seine Nachfolge geschaffen.
Populär auch außerhalb der dänischen Minderheit
Meyers Erfolg drückt sich auch in Zahlen aus: Seit 1987 verzeichnet der SSW wieder höhere Stimmenanteile. Ab 1996 ist er mit mehreren Abgeordneten im Kieler Landtag vertreten. Erstmals seit fast 40 Jahren kommt der SSW 1996 wieder auf zwei Landtagssitze - für Peter Gerckens und Anke Spoorendonk. Bei der Landtagswahl 2000 steigert der SSW seine Stimmenzahl erheblich - von 38.285 auf 60.367 (4,1 Prozent). Dies kommt auch zustande, weil ein neues Zweistimmen-Wahlrecht wirksam wird, das die Partei nicht nur in Schleswig, sondern erstmals zudem in Holstein wählbar macht. Mit Spoorendonk, Lars Harms und Silke Hinrichsen stellt der Wählerverband sogar drei Abgeordnete. Der SSW ist längst eine Landespartei, die auch außerhalb der dänischen Minderheit Stimmen gewinnt.
Spoorendonk: "Wir sind keine politischen Eunuchen"
2005 will der SSW will eine rot-grüne Minderheitsregierung unter Heide Simonis tolerieren. Das kommt weder bei der schleswig-holsteinischen CDU noch bei deren Vertretern im Bund gut an. "Ich kann die SSW-Spitzenkandidatin (Anke) Spoorendonk nur davor warnen, diese Sonderstellung zu missbrauchen und sich zum Schiedsrichter der Politik in Schleswig-Holstein aufzuschwingen", wettert damals der hessische CDU-Chef Roland Koch im "Spiegel" gegen die Minderheiten-Partei. Infolge der hitzigen Diskussion erhält Spoorendonk Morddrohungen, sie steht einige Wochen unter Polizeischutz.
Doch zu einem Gebot der Neutralität sieht sich die SSW-Politikerin nicht verpflichtet. Den "Lübecker Nachrichten" sagt Spoorendonk, die gesamte politische Arbeit der Partei würde sonst fünf Jahre lang auf Eis gelegt. "Wir sind keine politischen Eunuchen", betont sie weiter. Doch es kommt anders - und das Duldungsangebot wird obsolet: Nach vier erfolglosen Wahlgängen ist die rot-grüne Regierungsbildung gescheitert. Sechs Wochen später kommt es zur Bildung einer Großen Koalition von CDU und SPD.
"Dänen-Ampel": SSW übernimmt 2012 Justizministerium
Bei der Landtagswahl 2009 erreicht der SSW mit vier gewählten Abgeordneten erstmals seit 1950 wieder Fraktionsstärke, zur Fraktionsvorsitzenden wird Spoorendonk gewählt. Im Landtagswahlkampf 2012 mit Spoorendonk als Spitzenkandidatin setzt sich die Minderheiten-Partei unter anderem für eine Schuldenbremse ohne Kahlschlag in der Bildungspolitik ein. Und: Der SSW beschließt, für einen Regierungswechsel zur Verfügung zu stehen. Die Bedingung: ein Ressort führen. In Deutschlands nördlichstem Bundesland herrscht damals Wechselstimmung, die Mehrheit sieht die Arbeit der Regierung unter Schwarz-Gelb kritisch. Nach der Wahl bilden SPD, Grüne und der SSW die "Küstenkoalition" oder auch "Dänen-Ampel" - Spoorendonk übernimmt unter der Regierung von Torsten Albig (SPD) das Justizministerium. Es ist das erste Ministeramt, das der SSW bekleidet.
Minderheitenpartei stellt 2016 Weichen für die Zukunft
Der SSW versteht sich, wie es im neuen "Rahmenprogramm" von 2016 beschrieben ist, als eine Partei, die nicht nur die kulturellen und sozialen Interessen des dänischen und friesischen Bevölkerungsteils vertritt, sondern auch seit jeher die Stimme erhebt, wenn regionalpolitische oder allgemeine gesellschaftspolitische Probleme in unserem Land gelöst werden müssen. aus: Harrisleer Rahmenprogramm 2016, S. 3
2016 verpasst sich der SSW ein neues Programm, auch um die Partei fit für Herausforderungen in der Zukunft zu machen. Doch der Höhenflug des SSW stoppt 2017, bei der Landtagswahl erreicht die Partei lediglich 3,3 Prozent. Da auch die Koalitionspartner Stimmen einbüßen, steht das rot-grün-blaue Bündnis vor dem Aus. Nach dem Verlust ihres Ministerinnenamts geht Spoorendonk in den Ruhestand. Dank eines Ausgleichsmandats sitzen mit Christian Dirschauer, Lars Harms und Jette Waldinger-Thiering weiter drei SSW-Abgeordnete im Kieler Landtag.
SSW gewinnt 2021 wieder Mandat im Bundestag
2020 entscheidet sich die Partei auf einem Landesparteitag erstmals seit 1961 wieder zur Teilnahme an einer Bundestagswahl. Der Bundeswahlausschuss lässt die Partei der nationalen Minderheit zu - bei der Wahl am 26. September 2021 bekommt der SSW 55.330 Zweitstimmen und erhält ein Listenmandat. Spitzenkandidat Stefan Seidler zieht als fraktionsloser Abgeordneter in den Bundestag ein.
Der Sprung von Schleswig über Kiel erneut auf die große politische Bühne nach Berlin: für eine Partei mit gerade mal 3.600 Mitgliedern ein großer Erfolg.
Hinweis der Redaktion: In einer früheren Version des Beitrags hieß es, der SSW sei bereits ab Anfang der 1990er-Jahre in ganz Schleswig-Holstein wählbar gewesen. Dies ist jedoch erst seit dem Jahr 2000 der Fall.