Drei Jugendliche mit einem Buch-Geschenk, Blumen und einer Urkunde,die sie anlässlich ihrer Jugendweihe 1958 bekommen haben. © picture-alliance / dpa | ADN Zühlsdorf

Jugendweihe in der DDR: "Lieber Honecker belügen als Gott"

Stand: 12.04.2022 14:50 Uhr

Am 27. März 1955 fand die erste Jugendweihe in der DDR statt. Jugendliche sollten früh an die SED-Ideologie gebunden werden. Zeitzeugen und Historiker beurteilen den Erfolg unterschiedlich.

"Ich habe stundenlang geübt - mit meiner Mutter. Ich wollte mich schließlich nicht blamieren", erinnert sich Margitta Kandler vor einigen Jahren im Nordmagazin des NDR und lacht. Auch über ein halbes Jahrhundert danach sind ihr viele Details im Gedächtnis geblieben. Auch das mit den Stöckelschuhen. Damit zu laufen wollte gelernt sein. Doch schließlich sollte alles perfekt sein - bei ihrer Jugendweihe-Feier.

27. März 1955 - erste Jugendweihe in der DDR

Bei Kandlers Weihe 1964 in Bergen auf Rügen ist das Ritual bereits seit neun Jahren die zentrale Feier für Jugendliche, die ihren Übergang vom Kindesalter in das Erwachsensein zelebrieren wollen. Am 27. März 1955 findet in Berlin die erste offizielle Jugendweihe-Feier in der Deutschen Demokratischen Republik statt.

VIDEO: NDR Retro: Jugendweihe in der DDR (10.04.1960) (2 Min)

Statt Konfirmation: Freidenker-Ritual als Folge der Aufklärung

Eine Erfindung der DDR ist die Jugendweihe freilich nicht: Um 1800 ist die Zeit der Aufklärung vorbei, ihre gesellschaftlichen Auswirkungen dauern indes an. Mitte des Jahrhunderts wird das Bedürfnis nach einem außerkirchlichen Ritual für Jugendliche deutlich. Anhänger der Freidenker-Bewegung wollen ihren Kindern ihre Moralvorstellungen organisiert vermitteln. Am 9. April 1846 berichtet eine Breslauer Tageszeitung über die Initiation als "Confirmationsersatzfeier". Am 24. März 1890 feiern 23 Schüler und Schülerinnen ihren feierlichen Schulabschluss in einer "recht ansprechenden und erhebenden Familienfeier" wie das "Hamburger Echo" schreibt. Nach einer kurzen Blüte und der Weimarer Republik und einem Verbot in der Zeit des Nationalsozialismus lebt die Jugendweihe schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg wieder auf.

Jugendweihe in der DDR zwischenzeitlich verboten

Dabei hat die Jugendweihe bei der Gründung der DDR keinen guten Start. Im Gegenteil: Noch 1950 verbietet die DDR-Führung die Durchführungen. Der freidenkerische Ansatz gilt als Gefahr für die noch nicht gefestigte Macht der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Das Verbot bleibt allerdings ohne den gewünschten Erfolg: Das Bedürfnis nach einem Übergangsritual vom Kindesalter in das Erwachsensein treibt auch Eltern ohne strenge Religionszugehörigkeit dazu, ihre Kinder zur Konfirmation anzumelden.

Daher beschließt das Zentral-Komitee der SED am 14. März 1954 - nach Anweisung aus Moskau - die Durchführung von Jugendweihen ab 1955. Damit sollen Eltern und Kinder von der Konfirmation abgehalten werden. Gleichzeitig will die Partei-Führung die jungen Menschen bereits früh an ihre Ideologie binden.

Verfängt die SED-Ideologie?

Zahlreiche Historiker, Experten und Zeitzeugen belegen den Druck auf Eltern und Kinder, an der Feier teilzunehmen. Bei einer Weigerung drohten Nachteile im weiteren Werdegang - wie eine schlechtere Ausbildung oder die Verweigerung eines Studienplatzes.

Doch nicht für alle Zeitzeugen steht die Bindung an den Staat und seine Werte im Vordergrund. Für viele ist es die erste Gelegenheit, als Erwachsener in der Gemeinschaft zu feiern - natürlich mit Alkohol.

Brokat-Kleid statt Ideologie als Erinnerung

Die Antwort vom Margitta Kandler auf die Frage nach den prägendsten Details der Feier kam einst wie aus der Pistole geschossen: "Mein Kleid! Das war ein gelbes Brokat-Kleid mit Trägern. In dem wurde ich auch fotografiert. Das Foto habe ich heute noch". Die wichtigste Veränderung für die damals 14-Jährige: "Am nächsten Tag in der Schule wurden wir gesiezt. Das war schon etwas Besonderes." Im Vordergrund hätte damals für sie die persönliche Entwicklung gestanden - und Familie und Freunde, die gemeinsam mit ihr diesen Schritt feiern.

Unterricht zur Jugendweihe wird in den 70ern zur Pflicht

Teilnehmern an einer Jugendweihe gucken in das offizielle Buch "Weltall - Erde - Mensch". © Bundesarchiv
"Weltall - Erde - Mensch" mit diesem Buch entlässt die Gesellschaft jahrzehntelang junge Menschen in das Erwachsendasein.

Viele Jugendliche sind in der DDR leidenschaftsloser, als der SED lieb sein kann. In ihrem autobiografischen Buch "Meine freie deutsche Jugend" gesteht die Autorin Claudia Rusch, dass offenbar weder ein Gelübde auf die Kirche noch auf den Staat aus vollem Herzen erfolgt wäre: "... aber, ehrlich gesagt, belog ich lieber Honecker als Gott. Sicher ist sicher. Man weiß ja nie."

Die SED reagiert mit Zwang und Kontrolle. In den 70er-Jahren wird der Unterricht zur Jugendweihe noch stärker politisiert. Eine Teilnahme ist Pflicht. Während die Feier in Westdeutschland nur noch als winzige Besonderheit weiterlebt, nehmen in der DDR bis zum Schluss bis zu 98 Prozent der jungen Menschen teil.

Lerninhalte sind auf den sozialistischen Staat ausgerichtet

Die Lehrinhalte werden zentral gesteuert und klar auf den sozialistischen Staat ausgerichtet. Der Historiker und Theologe Andreas Meier folgert in seinem Buch "Jugendweihe - Jugendfeier": "Der eigentliche Sinn einer Weihe, nämlich die Änderung des Geweihten, trat völlig zurück hinter den von der SED diktierten Zielen der Weihlinge." Und diese lauten: Die jungen Menschen sollen in die Gefolgschaft der SED treten.

Die Jugendweihe überlebt die DDR

Eine Jugendweihe-Urkunde liegt neben einem Blumenstrauß. © picture-alliance Foto: Andreas Lander
Eine Jugendweihe-Urkunde und ein Buch gibt es noch heute - das Gelöbnis entfällt.

Der Erfolg hält sich offenbar in Grenzen. Viele Zeitzeugen betonen rückblickend den privaten Charakter der Jugendweihe. Einen Erfolg kann die Partei-Führung jedoch für sich verbuchen: Auch nach dem Ende der DDR und der schwierigen Umbruchzeit lebt die Jugendweihe weiter. Margitta Kandler etwa hat sich jahrelang im Landesverband Jugendweihe Mecklenburg-Vorpommern engagiert. Auch ihre Kinder und Enkel hätten die Jugendweihe absolviert: "Es wäre schlimm, wenn diese Tradition verloren ginge."

Wirklich zu befürchten ist das nicht: Deutschlandweit finden noch immer jährlich zwischen März und Juni Jugendweihe-Feiern statt. Tendenziell sind es mehr Jugendliche im Osten, die dieses Ritual etwa einer Konfirmation vorziehen - wobei einige Anbieter und Vereine in Abgrenzung zur DDR-Tradition eher den Begriff Jugendfeier verwenden.

Ein Gelöbnis gibt es bei den Abschlussfeiern übrigens nicht mehr. Ein Vorteil liegt damit auf der Hand: Bei ihrer Jugendweihe müssen die Jugendlichen heutzutage niemanden mehr anlügen.

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Eine Intershop-Filiale in Ostberlin im Luxushotel Metropol, aufgenommen am 10.11.1977. © dpa/picture alliance Foto: Günter Bratke

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Nordmagazin | 09.04.2022 | 19:30 Uhr

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