"Estonia"-Fähre geht 1994 in der tosenden Ostsee unter
Am 28. September 1994 versinkt die Fähre "Estonia" in der tosenden Ostsee. Von 989 Passagieren und Crewmitgliedern überleben nur 137 Menschen die größte Schiffskatastrophe der Nachkriegszeit in Europa.
Es ist der 27. September 1994: Gegen 19.15 Uhr verlässt die Personen- und Fahrzeugfähre "Estonia" den Hafen von Estlands Hauptstadt Tallinn. An Bord des rund 157 Meter langen Schiffes befinden sich 989 Passagiere und Crewmitglieder. Ziel ist Stockholm, wo die Fähre am nächsten Morgen gegen 9.30 Uhr ankommen soll. Was zu diesem Zeitpunkt noch keiner ahnt: Es ist die letzte Fahrt der Fähre. Etwa kurz vor 2 Uhr morgens versinkt die "Estonia" in der Ostsee - und 852 Menschen sterben. Lediglich 137 Passagiere überleben die größte Schiffskatastrophe der Nachkriegszeit in Europa.
Raue See erwartet die "Estonia"
Als das Schiff den estnischen Hafen verlässt, tobt auf der Ostsee ein Sturm - nichts Ungewöhnliches für die Fähre, die das ganze Jahr die beiden Hauptstädte Schwedens und Estlands miteinander verbindet. Während der Fahrt Richtung Skandinavien verschlechtert sich das Wetter. Der Sturm entwickelt sich zu einem Orkan mit haushohen Wellen, die unermüdlich gegen das Schiff donnern. Die meisten Passagiere an Bord der Fähre sind längst im Bett und schlafen, als die Katastrophe beginnt.
Das Unglück nimmt seinen Lauf
Vermutlich gegen 1 Uhr wird das Schiff nach Angaben von Überlebenden von mindestens zwei heftigen, lauten Schlägen erschüttert. Laut verschiedener Gutachten, die später erstellt werden, hat die Konstruktion der "Estonia" der extremen Belastung von See und Wetter nicht mehr standgehalten. Ihr 55 Tonnen schweres Bugvisier, die schwenkbare Luke am Fahrzeugdeck, reißt aus seiner Verankerung, kracht auf das Vorschiff und versinkt im tiefschwarzen Wasser der Ostsee. Mit etwa 15 bis 17 Knoten fährt die Fähre über ihr abgebrochenes Teil - die Ursache für die heftigen Erschütterungen an Bord, von denen die Zeugen berichten.
Wassermassen strömen in den Schiffskörper der "Estonia"
Innerhalb kürzester Zeit fluten schätzungsweise 15.000 Tonnen Seewasser das Fahrzeugdeck. Die "Estonia" bekommt Schlagseite von circa 30 Grad. Passagiere, die bislang in ihren Kojen geschlafen haben, wachen auf. An Bord bricht Panik aus - jeder versucht, sein Leben zu retten. Durch die Schräglage gerät die Welt auf der Fähre aus den Fugen: Treppen entwickeln sich zu Steilwänden, freie Flächen im Schiff zu fast unüberbrückbaren Hindernissen. Jeder Fehltritt bedeutet schon jetzt den sicheren Tod.
Bis zum Schluss kämpft die Crew gegen den Untergang an. Der Kapitän lässt Fahrt herausnehmen und steuert die "Estonia" mit der Schlagseite gegen Wind und Wellen. Er hofft, so das Schiff wieder zu stabilisieren und aufzurichten - doch der Versuch scheitert. Währenddessen dringt immer mehr Wasser durch das Lüftungssystem in das Innere der Fähre - und die Schräglage verschlimmert sich: Das Schiff neigt sich immer stärker auf die Seite.
"Estonia" wird zum Spielball der Wellen
Irgendwann fällt der Antrieb der "Estonia" komplett aus. Das Schiff ist der tobenden Ostsee hilflos ausgeliefert. Um 1.24 Uhr sendet ein Fähr-Mitglied den letzten Funkspruch zur MS "Silja Europa":
"Estonia": "Mayday, Mayday! 'Estonia' bitte!"
"Silja Europa": "Guten Morgen"
"Estonia": "Sprichst du finnisch?"
"Silja Europa": "Ja."
"Estonia": "Wir haben hier nun ein Problem, eine schwere Schlagseite nach Steuerbord, ich glaube zwanzig bis dreißig Grad. Könntest du zur Hilfe kommen und auch Viking Line zu Hilfe bitten?"
Kurze Zeit später bricht der Kontakt ab. Die Fähre dreht sich mit dem Unterschiff zum Himmel. Schließlich, 35 Kilometer südöstlich der finnischen Insel Utö, versinkt die "Estonia" mit dem Heck voran im tosenden Meer - und reißt Hunderte Passagiere mit in den Tod. Für die Menschen, die es noch rechtzeitig aus dem Schiff schaffen, beginnen dramatische Stunden im Kampf ums Überleben im eisigen Wasser.
Riesige Rettungsaktion startet
14 Schiffe befinden sich in der Nähe der "Estonia". Die ersten Hubschrauber treffen eine gute Stunde nach dem Untergang am Unglücksort ein - müssen aber wegen fehlender Ausrüstung wieder umkehren. Als erstes Schiff erreicht die MS "Mariella" die Stelle, an der die "Estonia" gesunken ist, und rettet kurz nach 3 Uhr die ersten sechs Überlebenden der Katastrophe. Schweden und Finnland schicken insgesamt 25 Hubschrauber - doch als diese an der Unglücksstelle eintreffen, ist es für die meisten Menschen zu spät: Viele erfrieren in dem etwa 13 Grad kalten Wasser der Ostsee. Am Ende können die Rettungskräfte nur 137 der fast 1.000 Passagiere an Bord retten.
Neue Untersuchungen - Ergebnisse 2025
Der offizielle Abschlussbericht von 1997 macht technisches Versagen an der Bugklappe für den Untergang der "Estonia" als Ursache aus. Doch seit der Entdeckung eines Risses im Rumpf des Wracks durch schwedische Dokumentarfilmer gibt es neue Fragen. Die estnische Regierung schreibt daraufhin eine europaweite Untersuchung aus. Sie soll den Einfluss des Risses auf den Untergang klären.
Professor Hendrik Dankowski von der Fachhochschule Kiel ist an den Untersuchungen beteiligt. Gemeinsam mit der Hamburgischen Schiffbau-Versuchsanstalt (HSVA) berechnet er mithilfe einer eigens entwickelten Software den zeitlichen Verlauf des Unfallhergangs. Denn ein mögliches Szenario wäre auch, dass der Riss erst nach dem Untergang der "Estonia" entstanden sein könnte. "Es wird quasi im Computer simuliert, aufgrund eines physikalischen Modells, wie der zeitliche Verlauf des Unfallhergangs sein könnte. Es kann also berechnet werden, wie viel Wasser zu welchem Zeitpunkt wo in das Schiff eingedrungen ist. Und welchen Einfluss das auf das Schiff hatte dann", sagt Dankowski dem NDR im September 2024. Erste Ergebnisse werden voraussichtlich für 2025 erwartet.