"Estonia"-Unglück: "Das war wie im Film"
Ein tosender Sturm, meterhohe Wellen: Georg Sörnsen aus Süderbraup war als Passagier beim "Estonia"-Unglück am 28. September 1994 dabei. Er schildert den Untergang der Fähre aus seiner Perspektive.
28. September 1994: Die estnische Personen- und Fahrzeugfähre "Estonia" mit 989 Menschen an Bord sinkt bei Sturm und schwerer See im Seegebiet südlich der finnischen Stadt Turku. Nur 137 Menschen überleben das Unglück. Einer von ihnen ist Georg Sörnsen aus Süderbraup im Kreis Schleswig-Flensburg.
Zeitreise in die Vergangenheit
"Bis zur dramatischen Nacht war es eine schöne Reise, die wir hatten", erinnert sich Sörnsen. Mit seinem guten Freund Herbert Augustin reist er im September 1994 bereits seit mehreren Tagen quer durch das Baltikum. Der 68 Jahre alte Augustin ist auf Spurensuche. Der Süderbrauper wurde in Memeln geboren, dem heutigen Klaipeda in Litauen. "Wir hatten alte Familienangehörige gefunden. Für Herbert war es sehr bewegend, auf einmal 50 Jahre in die Vergangenheit versetzt zu werden", erzählt Sörnsen.
Nicht die erste Fahrt mit der "Estonia"
Für die Rückkehr nutzen die Schleswig-Holsteiner die Fährverbindung zwischen Tallinn und Stockholm. "Ich weiß nicht, wie oft ich schon mit der Fähre gefahren bin", sagt Sörnsen. In den 90er-Jahren ist er geschäftlich viel im Baltikum unterwegs. Am 28. September 1994 ist für ihn eigentlich alles wie immer - bis auf das Wetter: "Es war Ende September und es gab schon Herbststürme. Uns wurde gesagt, das wohl ein ziemlich starker Sturm auf der Ostsee toben soll."
Volle Fahrt trotz Sturm und tobender See
Mit einer 15-minütigen Verspätung legt die "Estonia" im Hafen von Tallinn ab. Um die Zeit wieder aufzuholen, fährt das 157 Meter lange Schiff mit voller Fahrt und pflügt sich durch das tosende Meer. "Ich kann mich erinnern, dass wir noch andere Fähren überholten. Aber ich dachte mir nichts dabei", erzählt Sörnsen. Er und sein Freund Herbert gehen an diesem Abend früh ins Bett. Sie wollen für die rund 1.000 Kilometer lange Rückfahrt von Stockholm nach Süderbrarup am kommenden Tag fit sein.
Katastrophe beginnt im Schlaf
Mitten in der Nacht wird Sörnsen plötzlich von seinem Freund geweckt - vor ihrem Bullauge ist Wasser zu sehen. "Wir hatten eine Außenkabine. Ich sagte: 'Herbert, das kann nicht sein. Wir sind auf dem vierten Deck, das ist zehn Meter über dem Wasser. Da kann kein Wasser vor dem Fenster sein", erzählt Sörnsen. Zu diesem Zeitpunkt hat die "Estonia" bereits eine Schräglage von 30 Grad und sinkt. Beide haben Glück, ihre Kabinentür geht nach innen auf. Sie schaffen es in den Flur. "In der gegenüberliegenden Kabine war ein altes Ehepaar, das damit kämpfte, die Tür aufzubekommen", erinnert sich Sörnsen. Als sie es endlich schaffen, gibt es eine Erschütterung - und die Tür fliegt wieder zu. "Sie ging danach auch nicht wieder auf. Die Gesichter der beiden habe ich bis heute nicht vergessen."
Die Welt an Bord gerät aus den Fugen
Nur mit einem Nachthemd bekleidet versuchen Sörnsen und Augustin aufs siebte Deck der "Estonia" zu kommen. Dort sind die Rettungsboote. Der Weg dorthin wird zum Hindernislauf. "Eine Treppe ist nicht mehr eine Treppe, sondern fast schon eine Wand. Durch die Schlagseite war ja fast alles aus dem Lot", erzählt der 70 Jahre alte Geschäftsmann. Durch die tosenden Wellen richtet sich die "Estonia" immer wieder auf und kippt dann zur Seite, die Menschen an Bord werden hin und her geschleudert.
Die "Estonia" sinkt
Trotz der Hindernisse erreichen die beiden Schleswig-Holsteiner das Deck sieben. Sörnsen schafft es noch, seinem Freund Herbert, einer Frau und sich selbst Schwimmwesten anzulegen. Sie halten sich an einer Tür fest, als die "Estonia" immer tiefer in die Ostsee sinkt. "Das ist wie im Film. Es fängt an zu sprudeln, das Wasser und alles was in dem Schiff ist, kommt aus dieser Tür raus", beschreibt er die katastrophalen Umstände.
Sturz in eiskaltes Wasser
Als das Schiff schneller sinkt und die komprimierte Luft aus dem inneren der Fähre aus der Tür drückt, sieht Sörnsen seinen Freund Herbert das letzte Mal. "Das Schiff selbst war vom Volumen her nur noch zehn Prozent über der Wasserlinie - und dann flog Herbert als erster mit der Tür ins Wasser. Ich hörte noch, wie er flog, dann war ich im Wasser."
Der Überlebenskampf beginnt
Durch den Sog des Schiffes wird Sörnsen unters Wasser gerissen. Wie durch ein Wunder schafft er es an die Wasseroberfläche. Er kann nichts sehen, es ist absolut dunkel. Die Wellen erreichten Höhen von mehr als zehn Metern. "Ich konnte ein umgekipptes Rettungsboot erreichen und mich an dem Tampen, der um das Boot herumging, festhalten. Mir war klar, dass ich mich bei zehn Grad Wassertemperatur nicht lange festhalten konnte", sagt er.
Rettender Griff aus einer Bootsinsel
Plötzlich taucht eine Rettungsinsel neben dem umgekippten Rettungsboot auf. "Irgendwann bekam mich dann einer zu fassen und zog mich auf die Insel, auf der schon zwölf Menschen waren." Sein Retter heißt Christer Ecklöf - ein Schwede, der durch den Untergang selbst drei Freunde verloren hat. Aber auch auf der Rettungsinsel droht Gefahr. "Durch die Wellen ging es immer hin und her, das Wasser stand uns bis zum Hals", erinnert sich Sörnsen an die dramatischen Stunden auf der Ostsee. Immer wieder droht der Süderbrauper mit dem Kopf unters Wasser zu geraten. Er muss von Ecklöf aufgerichtet und wiederbelebt werden. Als die Insel von einem Hubschrauber entdeckt wird, sind bereits zwei Menschen gestorben. Die Helfer im Helikopter reagieren schnell, ziehen immer zwei Menschen mit einem Seil nach oben - die Rettung. Sörnsens Freund Herbert schafft es nicht. Er wird tot in der Ostsee geborgen.
Ab Mitternacht muss er raus aufs Deck
Zwei Wochen zieht sich Sörnsen zurück, versucht das Erlebte zu verarbeiten. Doch zwei Wochen später ist er aber schon wieder auf der Ostsee. "Mir blieb ja nichts anderes übrig, ich war selbständig. Ich hatte damals einen Betrieb in Estland, der geführt werden musste. Und so holt einen das Leben wieder ein", erzählt er heute. Der Untergang hat seine Spuren hinterlassen - auch wenn Sörnsen versucht, das meiste davon zu verdrängen. "Ich buche immer nur auf dem obersten Deck eine Kajüte, und sobald es Mitternacht wird, kann ich nicht drin sein. Ich muss dann raus aufs Deck. Das ist bis heute so."