Mauerfall: "Der Tag lag in der Luft"
Am Sonnabend ist der 30. Jahrestag der Grenzöffnung - jener Grenze, jener Mauer und jenes Zauns, die Ost- und Westdeutschland fast 30 Jahre lang trennten. "Zaundurchsetzte Ebene" nannte der Ostberliner Lyriker Uwe Kolbe dieses "hohe weite grüne Land" in den 70er-Jahren in einem Gedicht. Und: "Kleines grünes Land enges / Stacheldrahtlandschaft". Bezeichnend ist der Titel des Gedichts: "Hineingeboren" - Kolbe ist Jahrgang 1957, also hineingeboren in die DDR, in diese Landschaft. Das war auch Roland Jahn, Jahrgang 1953, Bürgerrechtler in der DDR, 1983 zwangsausgebürgert, dann Fernsehjournalist in Westberlin. Heute ist er Bundesbeauftragter für die Stasiunterlagen.
Die friedliche Revolution, die die Mauer schließlich zum Einsturz brachte, wurde von Menschen wie Ihnen gemacht, von "Hineingeborenen". Was hat Sie nicht verzweifeln und sich nicht abfinden, sondern aufbegehren lassen in diesem "kleinen grünen Land"?
Roland Jahn: Es ist ein langer Prozess gewesen. Man ist nicht als Staatsfeind geboren, sondern man hat in seinem Leben immer wieder Konflikte erlebt, wo man sich schon gefragt hat, was das eigentlich für ein Staat ist. Das ging los in der Jugend, als wir nicht die Musik hören durften, die wir mochten, die wir im Westradio gehört und auf unseren Tonbandgeräten aufgenommen hatten, die wir beim Klassenabend spielen wollten. Das war verboten. Rolling Stones, Led Zeppelin - das war das, was uns Ende der 60er-Jahre bewegt hat. Da hat man sich schon gefragt, wieso wir nicht selbst bestimmen durften, welche Musik wir hören. In dem Sinne war es ein Einschnitt in die Selbstbestimmung, was uns als Jugendliche ziemlich genervt hat und wo wir auch etwas dagegensetzen wollten. Das waren Erlebnisse, wo auch die politische Frage gestellt worden ist: Hat das etwas mit Sozialismus zu tun? Denn Sozialismus war eigentlich etwas, was wir auch wollten - eine gerechte Gesellschaft. Aber wir erlebten, wie ungerecht dieser Staat mit uns umging. Das hat Folgen gehabt für das weitere Aufbegehren in unserer Jugendszene in Jena, unserer Heimatstadt.
Ab wann hatten Sie den Eindruck, dass diese friedliche Revolution, dass all die Friedens-, Umwelt- und Kirchengruppen Erfolg haben könnten?
Jahn: Es war ein langer Weg. Viele andere haben ähnliche Erlebnisse gehabt wie ich, gerade auch die Gruppen, die sich Anfang der 80er-Jahre gebildet haben, vorwiegend auch unter dem Dach der Evangelischen Kirche, aber auch die ersten Gruppen außerhalb dieser Kirche. Da gab es schon das Gefühl, dass man alleine sei. Da hat man noch nicht daran gedacht, dass in wenigen Jahren die Mauer fällt. Aber das Streben nach Selbstbestimmung, nach Veränderungen in diesem Land, in dem wir gelebt haben, war bei uns vorhanden. Natürlich gab es auch viele Leute, die ausgereist sind oder nach der Haft freigekauft worden sind. Das war immer wieder ein Aderlass, und der richtige Glaube, dass wir es schaffen, war da noch nicht da.
Ich bin 1983 ausgebürgert worden und habe dann als Journalist in Westberlin oft noch mehr Informationen gehabt, als damals als DDR-Bürger, weil in Westberlin die Informationen zusammenliefen. Ich hatte ein ganzes Netzwerk aufgebaut, damit wir auch Informationen aus der DDR bekamen. Im Jahr 1987 habe ich gespürt, dass diese Bewegungen eine Kraft bekommt, dass sich diese oppositionellen Gruppen vernetzen. Seit 1987 spürte ich, dass das nicht mehr lange dauert, und ich hatte damals schon den Gedanken, das 1989/90 etwas Entscheidendes eintritt.
Wenn Sie bei Ihrer täglichen Arbeit sehen und lesen, was das MfS getan hat, an sehr banalen, aber auch an grauenhaften "Zersetzungsmaßnahmen" - wie gehen Sie damit um? Wird Ihnen da nicht auch mal schlecht?
Jahn: Ich versuche, aus dem Negativerlebnis Stärke zu beziehen. Als ich im Gefängnis saß, war das eine schlimme Zeit, jeder Tag war zuviel. Aber diese Erfahrung nutze ich auch. Das ist für mich zum Lebensmotto geworden: aus dem negativ Erlebten positive Kraft zu ziehen. Das versuche ich auch auf andere zu übertragen.
Sie haben als Journalist in Westberlin diesen 9. November aktiv miterlebt. Wie überraschend kam dieser Tag, als Schabowski die berühmte Nachricht verkündete?
Jahn: Ich habe auf diesen Tag gewartet, weil er in der Luft lag. Wer das intensiv verfolgt hat, wer diese Menschen gesehen hat, diese Fernsehbilder aus Leipzig, schon am 4. September, als junge Frauen ein Plakat für ein offenes Land mit freien Menschen hochhielten - wenn man diese Gesichter gesehen hat, wusste man, was da für eine Kraft dahinter steckt. Oder diese 70.000 Menschen in Leipzig, die gewaltfrei protestierten - da war klar, dass die irgendwann bis nach Berlin laufen und die Mauer einrennen würden. Auch die Bilder aus Ungarn, aus der Tschechoslowakei, aus der Botschaft, die Menschen, die in den Zügen in die Freiheit gefahren sind - da war eine Bilddynamik drin, die nicht mehr aufzuhalten war.
Es war klar, dass wenn nichts in Richtung Grenzöffnung passieren würde, dann würden die Menschen diese Grenze selber öffnen. Im Endeffekt war es nicht Schabowski, es waren nicht die Grenzoffiziere an der Bornholmer Straße, die die Grenze geöffnet haben, sondern es war der Druck der Massen, die darauf gedrängt haben, diesen Weg von der einen Seite der Stadt in die anderen gehen zu können. Sie wollten einfach Freiheit - und wenn es nur Freiheit für ein paar Stunden war. Einfach mal rüberschauen nach Westberlin. Diese eingeschränkte Reisefreiheit war ja auch eines dieser Grundrechte, die man den Menschen verwehrt hat, die man 40 Jahre lang eingesperrt hat. Das war etwas, was man überwinden wollte. In dem Sinne war Schabowski, die Pressekonferenz und all das, was an dem Tag passiert ist, nur noch ein kleiner Anlass, das Ganze etwas zu befördern. Am Ende waren es die Menschen, die es geschafft haben.
Das Gespräch führte Jürgen Deppe