Stand: 08.11.2019 11:00 Uhr

1989: "Die Angst hatte die Seiten gewechselt"

Die sogenannte Böse Brücke am Grenzübergang Bornholmer Straße nach dem Mauerfall. © dpa - picture alliance / akg-images Foto: akg-images
Tausende strömen im November 1989 über den Grenzübergang Bornholmer Straße nach West-Berlin.

Der 9. November 1989 - Deutschland erlebt eine Nacht im Freudentaumel. Die Mauer ist gefallen, Tausende DDR-Bürger strömen in den Westen, die Menschen feiern auf den Straßen. Journalist Georg Mascolo war unmittelbar dabei, als der erste Schlagbaum hoch ging. Der heutige Leiter der Recherche-Kooperation von NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung" war damals mit einem Kamerateam in Ost-Berlin am Grenzübergang Bornholmer Straße. Als einziges Team konnten sie die Grenzöffnung mit der Kamera festhalten. Diese Aufnahmen sind inzwischen von der UNESCO zum Welt-Dokumentenerbe erklärt worden. Im Interview auf NDR Info spricht Mascolo über die damaligen Ereignisse.

Damals vor dem Grenzübergang Bornholmer Straße hatten sich ja Zehntausende Menschen versammelt - sie wollten in den Westen. Wie war die Stimmung dort?

Georg Mascolo: Drängend, würde ich sagen. Es war ja ein Moment, wo in der Diktatur die Angst die Seiten gewechselt hatte. Auf der einen Seite diese wenigen Grenzer und Stasi-Offiziere, die die Bornholmer Straße noch halten und verhindern sollten, dass die Menschen reisen. Und auf der anderen Seite Zehntausende, die ihrem Unmut Luft gemacht haben mit Sprechchören - "Tor auf! Tor auf!" und dann auch "Wir kommen wieder! Wir kommen wieder!". Sie haben in dieser Nacht nicht mehr warten wollen. Sondern sie wollten sich die Reisefreiheit erkämpfen - und das ist ihnen in dieser Nacht auch gelungen. Deswegen spreche ich bis heute auch nicht vom Mauerfall. Sondern ich habe es als Mauersturm erlebt. Die Menschen haben es in dieser Nacht geschafft, die Mauer einzudrücken.

Bornholmer Straße: Historische Filmaufnahmen

Reporter Georg Mascolo und Kameramann Rainer März sind live dabei, als 1989 der Grenzbaum an der Bornholmer Straße in Berlin geöffnet wird. März' Aufnahmen für SPIEGEL TV sind exklusiv und weltbekannt. Ausschnitte sind im folgenden Film zu sehen, außerdem erzählt März, wie er die Nacht damals erlebt hat.

 

An diesem 9. November ging dann um 23.25 Uhr der erste Schlagbaum hoch - eben an der Bornholmer Straße, wo Sie mit ihrem Kamerateam damals waren. "Das war Geschichte live", hat später ein DDR-Bürger gesagt. Was ist Ihnen in besonderer Erinnerung geblieben?

Mascolo: Der Moment, als sich tatsächlich der Schlagbaum öffnete. Für uns ist das in dem Moment eine etwas schwierige Situation gewesen. Wir sind an dem Abend den Grenzern schon gehörig auf den Geist gegangen, so dass sie sich entschieden hatten, uns in den Westen auszuweisen. Sie hatten uns schon in ihr Postenhäuschen geholt, hatten unsere Pässe eingesammelt, um uns zurückzuschicken. Und nur weil sie das getan haben, haben wir dann den Moment der Mauer-Öffnung aus dem allerbesten Blickwinkel heraus verfolgen können. Man sieht ja tatsächlich, wie der Schlagbaum gelöst wird, wie die Menschen dagegen drängen, wie dann Tausende über den Übergang ziehen. Ich habe mir übrigens das Rohmaterial vor einiger Zeit noch einmal angeschaut, weil zu denen, die in dieser Nacht über die Bornholmer Straße in den Westen gingen, auch eine damals noch ziemlich unbekannte, junge Physikerin gehörte, die wir heute als unsere Kanzlerin kennen. Und irgendwie habe ich immer gehofft, dass ich ein Bild von ihr finden könnte, aber das ist mir bis heute nicht gelungen.

Zwei Stasi-Offiziere der DDR-Grenzstruppen haben damals sozusagen den Mauerfall eingeleitet - Helmut Stöß, der Sicherheitsoffizier des Grenzübergangs, und Harald Jäger, damals der diensthabende Kommandeur. Sie handelten eigenmächtig, ohne einen Befehl zu haben. Wie haben Sie das erlebt - war das Mut, war das Ratlosigkeit oder war das Nachgeben unter dem Druck?

Mascolo: Es war eine Mischung aus allem. Fragt man Helmut Stöß heute, dann sagt er: "Das ist in Wahrheit eine Katastrophe gewesen - der Untergang meines Landes." Bei Harald Jäger, der ihm den Befehl dazu gegeben hat, ist es ganz anders. Der ist heute stolz auf das, was er da getan hat. Er hat letztlich die Entscheidung getroffen, nachdem er immer wieder bei seinen Vorgesetzten im Stasi-Hauptquartier um Weisung ersucht hat. Und er ist dann auch bedrängt worden von seinen eigenen Leuten auf dem Grenzübergang, die gesagt haben: "Harald, Du musst jetzt eine Entscheidung treffen!" Es ist Angst gewesen. Es ist Sorge gewesen, vor dem, was passieren konnte. Nun muss man aber auch sagen, dass der 9. November Finale und Höhepunkt einer deutschen Revolution gewesen ist und das Regime schon so weit im Zerfall war, dass niemand mehr schießen wollte. Ich glaube, dass es eine Mischung aus all diesen Gründen gewesen ist. Und am Ende ist Harald Jäger jemand gewesen, der sehr mutig gehandelt hat.

Rückblickend betrachtet nach 30 Jahren: Ist es in Ihren Augen ein Wunder gewesen, dass das alles, das Ende der DDR, so friedlich abgelaufen ist ohne Gewalt und Todesopfer?

Mascolo: Ja. Es gibt ja nicht so viele Momente in der jüngeren deutschen Geschichte, auf die wir stolz sein können, so dass diese Revolutionstage im Herbst 1989 zu den Dingen gehören, auf die wir stolz sein können - auf die zuallererst die Ostdeutschen stolz sein können, weil es ihre Revolution gewesen ist. Und ich muss sagen, dass ich es bis heute bedauere, dass dieses neue Land sich entschieden hat, ausgerechnet einen so emotionslosen und blutleeren Tag wie den 3. Oktober zum Feiertag, zum Tag der Deutschen Einheit, zu erklären. Ich glaube, eine der wahren Wendemarken dieser Revolution hätte sich dafür viel besser geeignet.

Das Interview führte Liane Koßmann.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Info | Aktuell | 08.11.2019 | 06:20 Uhr

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