Jahn zum Mauerfall: Freiheit musste gelernt werden
Es waren symbolträchtige Szenen in Berlin, als sich am 9. November 1989 die Nachricht wie ein Lauffeuer verbreitete: Die Mauer ist offen. Es passierte das eigentlich Unfassbare, auch wenn es sich in den Wochen zuvor angebahnt hatte: durch friedliche, aber hartnäckige und entschiedene Proteste. Roland Jahn hat diese Momente sehr präsent vor Augen. 1983 war der Bürgerrechtler Mitbegründer der Friedensgemeinschaft in Jena, wurde noch im selben Jahr zwangsausgebürgert. Seit 2011 leitet Jahn die Stasi-Unterlagenbehörde. Dass nach drei Jahrzehnten noch immer Ressentiments und Vorbehalte in Ost- und Westdeutschland zu spüren sind, empfindet Roland Jahn als bedauerlich.
"Für ein off‘nes Land mit freien Menschen" - diese Losung stand auf einem Plakat, das zwei junge Frauen vor 30 Jahren, am 4. September 1989, in Leipzig auf der Straße hochhielten. Als ich dies damals im Fernsehen der ARD sah - nur für wenige Sekunden, weil zwei Stasi-Mitarbeiter das Transparent den Frauen aus den Händen rissen -, da wusste ich: Es ist bald vorbei mit der DDR. Auf dem Fernsehschirm hatte ich eine neue Generation gesehen, die angstfrei gegen die Staatsmacht demonstrierte. Einen Monat später waren 70.000 Menschen in Leipzig auf der Straße. Die Diktatur war am Ende. Im November dann, fiel die Mauer. Ein Jahr später war die DDR verschwunden. Seit nun 29 Jahren leben wir gemeinsam in einem offenen Land, als freie Menschen.
Demokratie ist eine nicht endende Herausforderung
Die Losung der jungen Frauen von 1989 ist mir nicht zufällig so lebendig im Gedächtnis geblieben. Sie war ein klares Ziel gegen die Unterdrückung und Bevormundung der Menschen. Sie war der Wunsch nach Selbstbestimmung und Rechtsstaatlichkeit, und dieser zählt in allen Zeiten. Was aber deutlich geworden ist, mit jedem Jahr im gemeinsamen Deutschland: Freiheit, Offenheit, Demokratie sind eine nicht endende Herausforderung.
Das Bedauerliche für mich heute, im Jahr 2019, ist, dass die Debatte darüber, was war und wie es verändert wurde, wie wir gelebt haben, vor 1989 und auch danach, für unsere Demokratie im Kern stagniert. Dass 2019 immer noch in Ost-West-Gegensätzen gedacht und geredet wird, finde ich den Realitäten nicht angemessen. Und auch Pauschalurteile über Menschen sind fehl am Platz. "Den" Ostdeutschen oder "den" Westdeutschen gab es und gibt es nicht.
Freiheit musste gelernt werden
Aber natürlich gibt es die gelebte Realität vor 1989. Und da macht es schon einen Unterschied, ob man in einer Demokratie oder einer Diktatur gelebt hat. Denn einfach abstreifen kann man es nicht, das gelebte Leben. Die DDR hat ihre Bürger unfrei gehalten, sie zur Anpassung angehalten und Widersprechen bestraft. Das hat die Gesellschaft geprägt. Tiefgreifend, langanhaltend, mit Folgen auch für unser jetziges Miteinander.
Mit dieser Diktatur-Erfahrung im heutigen Deutschland angekommen zu sein, ist eine Lebensleistung, die zu wenig anerkannt wird. Freiheit musste gelernt werden. Anzukommen in einer weit offenen Gesellschaft, in der jeder Gedanke sein darf und die die Selbstbestimmung in alle Richtungen möglich macht, ist eine große Herausforderung. Frei zu sein im Denken. Frei zu sein, jede Meinung zu äußern. Frei zu sein, sein Leben so zu gestalten, wie man es will. Das kann auch eine Last sein. Es ist ein Lernprozess mit der Fülle der Möglichkeiten umzugehen, mit dem Risiko der falschen Entscheidung zu leben. Das ist anstrengend.
Respekt vor dem gelebten Leben
Freiheit ist ein ständiger Prozess. Freiheit heißt auch, alte Denkmuster, die einem verordnet werden oder die man sich im Leben selber auferlegt, aufbrechen zu können, ganz unabhängig davon, in welcher Gesellschaft man lebt. Freiheit heißt aber auch, mit dem leben zu müssen, was anders ist, solange es den Regeln unseres Zusammenlebens entspricht: der Achtung der Menschenrechte und dem Respekt voreinander.
Ich wünsche mir ein bewusstes Bekenntnis zur Biografie. Und gegenseitigen Respekt vor dem gelebten Leben. Insofern ist für mich, nach all den Jahren, die Losung "Für ein off'nes Land mit freien Menschen" auch ein guter Kompass für unser Zusammenleben im gemeinsamen Deutschland.