Ketamintherapie gegen schwere Depressionen

Stand: 10.09.2024 09:21 Uhr | vom Norddeutscher Rundfunk-Logo

Eine Ketamintherapie hat eine starke Wirkung gegen schwere Depressionen, weil sie als Nebenwirkung Rauschzustände erzeugt. Auch die Drogen Psilocybin und LSD werden derzeit erforscht.

von Tilman Hassenstein

Die Behandlung von Depressionen erfolgt in der Regel medikamentös mit Antidepressiva und mit Psychotherapie. Diese Kombination ist bewährt und wirksam. Aber in etwa 20 Prozent der Fälle wirken die zur Verfügung stehenden Therapien nicht ausreichend. Diese Betroffenen gelten als therapieresistent. Für sie wird jetzt eine neuartige Behandlung erforscht: die psychedelische Therapie. Sie verspricht stärkere Wirksamkeit als herkömmliche Verfahren und könnte in manchen Fällen sogar langfristige Besserung bedeuten.

Ketamin - ein altes Schmerzmittel wirkt auch gegen Depressionen

Ketamin, ein Narkosemittel, das hochdosiert Schmerzen lindert und als Notfallmedikament eingesetzt wird, ist in niedriger Dosierung bereits im klinischen Einsatz gegen die Depressionen. Als Nebenwirkungen kann es zu Bewusstseinsveränderungen und Halluzinationen kommen. Es ist kein Psychedelikum, wirkt aber ähnlich. Solche psychedelischen Erfahrungen wirken antidepressiv.

Die Akuttherapie mit Infusionen oder einem Nasenspray erfolgt unter Überwachung. Weil es depressive Symptome besonders schnell lindert, spielt Ketamin eine wichtige Rolle als Notfallmedikament bei akuter Suizidalität. Und es kommt als längerfristige Therapie in regelmäßigen Abständen bei Menschen mit Depressionen zum Einsatz, bei denen andere Therapien nicht ausreichend wirken.

Bei entsprechender Indikation ist die Therapie mit Esketamin-Nasenspray eine Kassenleistung. Ketamin-Infusionen müssen als sogenannte Off-Label-Therapien von den Patientinnen und Patienten selbst bezahlt werden.

Rauschdrogen als Medikamente

Stärkere psychedelische Wirkungen als Ketamin haben die illegalen Drogen LSD und Psilocybin. Ihr Einsatz gegen Depressionen und auch andere psychische Erkrankungen wird derzeit erforscht, wie auch der von Mescalin, einem psychedelischen Wirkstoff aus Kakteen. Und es gibt Untersuchungen zum medizinischen Einsatz von MDMA, dem Wirkstoff der Partydroge Ecstasy.

Psychedelische Erfahrungen ermöglichen es, sich selbst auf neue Weise zu erkennen, verborgene Traumata zu bearbeiten und unbekannte Bewusstseinszustände zu erleben. Solche Wirkungen können Depressionen, Zwangserkrankungen und Angststörungen positiv beeinflussen. Es gibt Berichte, nach denen langjährige psychiatrische Erkrankungen durch wenige psychedelische Erfahrungen deutlich gebessert wurden.

LSD - eine wechselvolle Karriere

Die medizinische Wirkung von LSD wurde schon in den 40er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts untersucht. 1949 brachte der Pharmakonzern Sandoz LSD als Medikament auf den Markt, laut Beipackzettel "zur seelischen Auflockerung bei analytischer Psychotherapie, besonders bei Angst- und Zwangsneurosen." Die psychedelische Psychotherapie war in der Folge populär und wurde weltweit erforscht. Aber der US-amerikanische Krieg gegen die Drogen zu Beginn der 1970er-Jahre führte weltweit zu einem Stopp jeglicher wissenschaftlicher Arbeiten mit psychedelischen Substanzen. Erst in den letzten Jahren ist die Erforschung vor allem von LSD und Psilocybin wieder in Gang gekommen.

Heilsame Pilze

Der psychoaktive Wirkstoff Psilocybin aus einer Gruppe von Pilzen machte in der Hippie-Ära der 60er-Jahre Karriere und wird seit den 80er-Jahren wieder wissenschaftlich untersucht. Einzelne kleine Studien zeigten eine gute antidepressive Wirksamkeit. Die amerikanische Arzneimittel-Zulassungsbehörden FDA erklärte Psilocybin 2018 zur "Breakthrough Therapy" bei behandlungsresistenten Depressionen. Inzwischen gibt es größere Studien mit unterschiedlichen Ergebnissen.

Die bisher größte europäische Studie "Episode" am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim und der Berliner Charité ist abgeschlossen, die Ergebnisse sind aber noch nicht veröffentlicht. Nach bisherigen Erkenntnissen soll etwa ein Drittel der Menschen, die Psilocybin gegen Depressionen einnehmen, gut davon profitieren. Ein Drittel profitiert mehr oder weniger gut und ein Drittel nicht. Bis die Wirksamkeit abschließend beurteilt werden kann und eine Zulassung für die klinische Routine erfolgen könnte, werden nach Ansicht von Experten noch fünf Jahre vergehen.

Wie Psychedelika wirken

Der genaue Wirkmechanismus ist nicht aufgeklärt. Aber es ist bekannt, dass LSD und Psilocybin im Gehirn unter anderem wie Serotonin wirken, das sogenannte Glückshormon. Durch den Thalamus, der normalerweise Sinneseindrücke filtert und dämpft, gelangen unter dem Einfluss von Psychedelika viel mehr Informationen, die dann das Gehirn anregen. Es entstehen neue Nervenbahnen und -verbindungen. Und damit kommt es auch zu neuen, anderen Wahrnehmungen.

Menschen, die solche Erfahrungen machen, beschreiben diese oft als sehr intensiv und beglückend, ein Gefühl, das depressive Menschen lange nicht kannten. Ihnen gelingt es, sich selbst anders zu sehen und zu neuen Bewertungen eigener, auch bislang verborgener und traumatisierter Persönlichkeitsanteile zu finden.

Risiken der psychedelischen Therapie

Wie bei jeder medizinischen Therapie stehen dem Nutzen Risiken gegenüber, die in eine Bewertung einbezogen werden müssen. Es kann zu akuten körperlichen Nebenwirkungen wie Bluthochdruck, Herzrhythmusstörungen, Schwitzen oder Schwindel kommen. Die psychedelischen Wirkungen können sehr stark sein. Verdrängte Erfahrungen können ins Bewusstsein rücken, die schwierig zu verarbeiten sind. Deshalb sollen therapeutische Sitzungen, bei denen Psychedelika eingenommen werden, in einem geschützten Setting stattfinden, das Sicherheit und Geborgenheit bietet. Die Erfahrungen durch die psychedelische Wirkung sollen psychotherapeutisch eingeordnet und so nutzbar gemacht werden. Insgesamt gelten die Risiken einer psychedelischen Therapie als gering, wenn sie innerhalb eines solchen therapeutischen, gesicherten Rahmens erfolgt.

Eine Kontraindikation für die Einnahme von Psychedelika sind Psychosen, wie sie beispielsweise bei einer Schizophrenie vorkommen. Psychedelische Erlebnisse könnten diese verschlimmern. Ohne geschützte Rahmenbedingungen besteht das Risiko, dass latente Psychosen ausgelöst werden. Deshalb muss vor einer medizinischen Anwendung eine solche Veranlagung ausgeschlossen werden.

Paradigmenwechsel in der Psychiatrie

Die psychedelische Therapie steckt noch in den Kinderschuhen, in großen Teilen ist sie noch nicht Teil der medizinischen Routine. Nur die Ketamintherapie ist als psychiatrische Behandlungsform zugelassen und wird schon klinisch angewendet. Das Ziel ist es, eine chronische Erkrankung nicht mehr dauerhaft zu behandeln, um sie zu unterdrücken, sondern im besten Fall durch eine kurzfristige Therapie eine langfristige Genesung zu bewirken. Das wäre ein grundlegender Wandel, Forschende sprechen von einem Paradigmenwechsel. Psychedelische Erlebnisse können heilsame Wirkungen haben. Deren Erforschung als psychiatrische Therapie bedeutet, dass es in Zukunft eine ganz neue Behandlungsoption für schwere chronische Erkrankungen wie Depression, Zwang oder Sucht geben könnte.

Experten aus dem Beitrag

Weiterführende Links

In Notfällen, etwa bei drängenden und konkreten Suizidgedanken, wenden Sie sich bitte an die nächste psychiatrische Klinik oder wählen Sie den Notruf unter der Telefonnummer 112. Auf der Website der Deutschen Depressionshilfe finden Sie Klinikadressen und eine Auflistung von Krisendiensten und Beratungsstellen in Ihrer Region.

Unterstützung in schwierigen Lebenslagen bietet die Telefonseelsorge unter 0800.1110111 oder 0800.1110222

 

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Dieses Thema im Programm:

NDR Fernsehen | Visite | 10.09.2024 20:15 Uhr

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