Ein Mädchen schnupft sich aus. © Colourbox Foto: Phovoir

Keine "Immunschuld" als Folge der Pandemie-Schutzmaßnahmen

Stand: 24.11.2022 17:32 Uhr

Schülerinnen und Schüler husten sich durch die Unterrichtszeit, manch eine Kita-Gruppe ist derzeit fast leer. Einen Zusammenhang zwischen der Corona-Pandemie und anderen Erregern gibt es laut Medizinern und Wissenschaftlern aber nur indirekt.

von Yasmin Appelhans und Korinna Hennig

Überall in Deutschland zeigt sich ein ähnliches Bild, sagt der Kinderarzt Robin Kobbe. Er forscht am Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) und dem Bernhard-Nocht-Institut in Hamburg an Infektionen bei Kindern. In den Notaufnahmen mancher Krankenhäuser nehmen die Infekte nach einem leichten Knick während der Herbstferien wieder zu, sagt er: "Auch hier in Hamburg, in der Notaufnahme und auch in den niedergelassenen Praxen, sind Atemwegserkrankungen gerade recht häufig und die Rettungsstelle voll."

Im von der Universität Dresden und der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie etablierten bundesweiten Erfassungssystem für Atemwegsinfektionen bei Kindern fällt auf: Die meisten Kinder, die deshalb ins Krankenhaus kommen, sind mit dem sogenannten Humanen Respiratorischen Synzytial-Virus (RSV) infiziert. Das berichtet auch Reinhard Berner, Direktor der Dresdner Kinderklinik. RSV ist ein weitverbreitetes Virus, mit dem sich auch Erwachsene infizieren. Bei ihnen verläuft die Infektion meist wie eine leichtere Erkältung. Besonders jüngere Kinder haben aber engere Atemwege, wodurch sich schneller eine Bronchitis entwickeln und die Infektion besonders heftig verlaufen kann. 

Trainingseffekt für das Immunsystem

Dass es gerade so viele Kinder trifft, liegt auch an den Vorsichtsmaßnahmen während der Corona-Pandemie, meint der Hamburger Kinderarzt Kobbe. Er spricht von einer "immunologischen Lücke": Weil das Immunsystem vieler Menschen in den vergangenen zwei, drei Jahren durch das Tragen von Masken sowie Abstandhalten weniger Erreger gesehen hat, sei es nicht trainiert worden. Es sei nicht durch milde oder asymptomatische Infektionen "immunologisch bei der Stange" gehalten worden.

Eine Erklärung, die gerade unter Eltern in sozialen Netzwerken heiß diskutiert wird - und das oft mit ideologisch motiviertem Beigeschmack. Die Corona-Schutzmaßnahmen, so die Lesart mancher, hätten eine "Immunschuld" bei jungen Menschen hinterlassen, dem Immunsystem also nachhaltig geschadet. Nun würden andere Viren heftiger zuschlagen können. Allerdings: Infektionen seien "kein must have unseres Immunsystems", twitterte die Virologin Isabella Eckerle dazu ironisch. "Es gibt kein 'Infektions-Konto', das man abarbeiten muss, damit man am Ende des Jahres bei null ist."

Verschobene Saisonalität

Auch Friedrich Reichert, Oberarzt der Pädiatrischen Interdisziplinären Notaufnahme am Klinikum Stuttgart, sagt: "Das Immunsystem funktioniert super, auch nach den Maßnahmen. Es gibt keine Hinweise darauf, dass ausbleibende Infekte das Immunsystem irgendwie schwächen würden." Der "Trainingseffekt" ist also keiner, der nötig wäre - doch es gibt ihn trotzdem.

Denn das, wovon Kobbe spricht, ist durchaus eine Folge der Maßnahmen, allerdings nur in Form einer Verschiebung der Saisonalität. Bereits im vergangenen Jahr setzte die jahreszeitenübliche Infektionswelle mit RSV früher ein, und sie hatte einen besonders hohen R-Wert, wie Reichert betont. Das heißt: Es gab mehr Menschen, die für das Virus empfänglich waren. Zum einen, weil auch bei altbekannten Atemwegserkrankungen die Immunität nach überstandener Infektion nach einer gewissen Weile nachlässt. Das heißt: Liegt die letzte, womöglich unbemerkte Infektion zu lange zurück, kann man sich wieder leichter anstecken.

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Bedeutung des Altersfaktors unklar

Dazu kommt: Durch die Pandemie-Maßnahmen sind mehrere Infektions-Jahrgänge bei Kindern ausgefallen. 90 Prozent der Kinder machen normalerweise in den ersten zwei Lebensjahren eine RSV-Infektion durch, 50 Prozent sogar zweimal. Doch nun haben viele erst im Kindergartenalter ihre erste Begegnung mit dem Virus. Diese ersten Infektionen fallen häufig besonders heftig aus, spätere Infektionen mildern sich ab. Und auch manche heute Fünfjährige haben durch die Pandemie bislang noch keine Zweit- oder Drittinfektion mit dem Atemwegserreger durchgemacht. "Es ist eben so, dass dieser Booster, wenn man es jetzt mal so nennen möchte, für diese Altersgruppe auch ausgeblieben ist", erklärt der Dresdner Kinderarzt Berner.

Ob es einen Vor- oder Nachteil geben könnte, wenn Erstinfektionen rein altersmäßig später stattfinden, können die Mediziner nicht sagen. Unter sechs Monaten ist das Risiko für einen schweren Verlauf am größten - andererseits kann besonders bei einer Infektion im Kleinkindalter späteres Asthma eine Folgesein. "Das Ganze nun gegeneinander abzuwägen, wäre wissenschaftlich nicht wirklich fundiert", meint der Stuttgarter Mediziner Reichert. Die Verschiebung findet also auf Bevölkerungsebene statt und hat im Prinzip vermutlich keine medizinische Bedeutung für das einzelne Kind.

Rolle des Coronavirus ist unklar

Doch die Debatte um die Folgen der Corona-Pandemie für Kinder kennt auch eine "Gegenposition": Das Virus selbst könnte seine Spuren im Immunsystem hinterlassen haben, so die Theorie. Auch bei denen, die - wie die meisten Kinder - einen sehr milden Covid-19-Verlauf hatten und keine Post-Covid-Symptome entwickelt haben. Manche Kinderärzte äußern diese Vermutung, denn von anderen Viren ist das durchaus bekannt und gut belegt: Masern etwa haben längerfristige Auswirkungen auf die T- und B-Zellen, der Immunschutz gegen andere Erreger wird schwächer: Wer eine Masern-Infektion durchgemacht hat, muss oft noch lange mit Folgeerkrankungen kämpfen.

Nach einer Influenza seien es oft bakterielle Erreger, die es leichter hätten, erklärt der Kinder-Infektiologe Reichert - zum Beispiel Staphylokokken. Das habe mit einer Fehlfunktion der Granulozyten zu tun, die den Großteil der weißen Blutkörperchen ausmachen. Nach Covid-19 hat Reichert diese Beobachtung im klinischen Alltag aber bisher nicht machen können: "Die primäre Veränderung im Blutbild in den ersten Wochen sieht aus wie bei anderen Viren auch." Es gebe zwar Laborstudien, die auch Wochen nach der Infektion Einflüsse zeigen. Doch ob das im realen Leben tatsächlich mehr andere Infektionen nach sich zieht, konnte bisher nicht nachgewiesen werden. Auch die Kinderärzte Kobbe und Berner halten einen solchen Effekt für unwahrscheinlich. Das allerdings seriös zu erforschen, dürfte zudem schwierig sein, weil sich kaum eine Kontrollgruppe mehr bilden lässt, die noch keine Corona-Infektion durchgemacht hat.

Eine "normale" RSV-Welle?

Tatsächlich könnte aber auch die gefühlte Wirklichkeit täuschen, und die RSV-Welle ist in diesem Jahr gar nicht außergewöhnlich hoch: Der Stuttgarter Arzt Reichert sieht schon wieder eine Art Normalzustand für diese Jahreszeit, im vergangenen Jahr sei das noch anders gewesen. Die Welle sehe aus "wie sonst auch immer", das zeigten auch Daten aus Großbritannien. Kinderklinik-Direktor Berner aus Dresden allerdings glaubt, dass die Zahl der Fälle in den kommenden Wochen noch stark zunehmen wird. Laut Robert Koch-Institut hält die RSV-Welle besonders unter Kleinkindern weiter an.

Angst vor Überlastung der Kinderkliniken

Sorge macht Kinderärzten derzeit vor allem auch ein anderes Virus: die Influenza. Normalerweise spielt die "echte Grippe" erst später in der Saison eine Rolle, oft erst nach dem Jahreswechsel. Doch die Fallzahlen nehmen gerade schon zu, betont Reichert: "Dieses Jahr ging beides, RSV und Influenza, gleichzeitig los." Wenn die Grippewelle hoch ausfalle, werde es akute Versorgungsprobleme geben. Auch der Influenza-Erreger bringt in schweren Wellen viele Kinder ins Krankenhaus - und Kinderkliniken sind strukturell schon in Normalzeiten unterversorgt im Vergleich zur Erwachsenenmedizin. In den USA wird derzeit schon vor einer "Tripledemic", also der dreifachen Epidemie durch RSV, Influenza und Covid-19 bei Kindern gewarnt.

Auch Kinder gegen Influenza impfen

Reinhard Berner aus Dresden und Robin Kobbe aus Hamburg raten deshalb, kranke Kinder auf jeden Fall zu Hause zu betreuen und Hygienemaßnahmen einzuhalten, wie Händewaschen, in die Armbeuge zu niesen und bei Erkältungssymptomen Maske zu tragen, um Vulnerable mit zu schützen. Sonst könne es so kommen wie in der Schweiz in den vergangenen Wochen: "Dort ist es so gewesen, dass die Kinder von Zürich nach Lausanne geflogen worden sind, weil man einfach keine Beatmungsplätze mehr hatte", sagt Berner.

Viele Kinderärzte empfehlen deshalb, auch Schul- und Kindergartenkinder schon gegen Influenza impfen zu lassen. Mehrere EU-Staatenwie Finnland, die Slowakei oder Großbritannien setzen mittlerweile auch auf die Impfung von Kindern unterschiedlicher Altersgruppen.

Schon lange wird auch in Deutschland eine entsprechende Stiko-Empfehlung erwartet - offenbar kam aber die Corona-Pandemie dazwischen. Immerhin gibt es die Impfung längst, auch zugelassen für Kinder. Gegen RSV dagegen kann bisher noch nicht aktiv geimpft werden. Doch das Pharmaunternehmen Pfizer hat kürzlich eine Pressemitteilung veröffentlicht, die Hoffnung macht: Demnach wurde ein RSV-Impfstoff für Schwangere erfolgreich getestet, der neugeborene Kinder mitschützt. Zu spät für diese Welle - aber vielleicht ein Hebel für den nächsten Herbst.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Info | Infoprogramm | 17.11.2022 | 10:50 Uhr

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