"Die Inkommensurablen": Enttäuschender Roman von Raphaela Edelbauer
Mit großer Spannung wurde der neue Roman von Raphaela Edelbauer erwartet. Aber - wo viel erwartet wird, lugt immer auch die Enttäuschung um die Ecke. "Die Inkommensurablen" wirkt reichlich überkonstruiert.
Raphaela Edelbauer, 1990 in Wien geboren, hat in den vergangenen Jahren mit ihrem Debüt "Das flüssige Land" und ganz besonders mit dem extrem ausgetüftelten Science-Fiction-Digitalisierungs-Epos "Dave" die Kritik und das Publikum elektrisiert. Der erste Roman brachte ihr eine Nominierung für den Deutschen Buchpreis, der zweite gar den Gewinn des Österreichischen Buchpreises ein. Nun also ihr neuer Roman - man fragt sich, wie lange wohl ihr Verlag versucht hat, sie von diesem sperrigen Buchtitel abzuhalten: "Die Inkommensurablen". Aber er macht natürlich auch neugierig.
Ein gebildeter Bauernknecht in Wien
Wien am letzten Julitag im Jahr 1914. Ein junger Mann, übermüdet, entkräftet und seelisch "hin- und hergeschleudert", stapft durch die riesige Stadt. Der große europäische Krieg ist ganz nah, diese menschengemachte Katastrophe.
Dort hinten, wo der Kanal wieder in den Ring überging, eröffnete sich ein riesenhafter Schlund, in den die Menschen marschierten. Er konnte die breiige Zunge sehen und das zuckende, von Adern überzogene Zäpfchen. Er erkannte die kalten Schleimhautfalten eines Lurchs und seinen Kehlkopf, der so stark bebte, dass man die schwalligen Schlucke erahnen konnte. Für einen Augenblick wollte er unterm Trugbild dieser Lichtspiegelung die Menschen warnen, wollte wenigstens die Kinder herausziehen. Doch er begriff, dass es vergebens war. Nein, das waren keine Menschen mehr, es war eine Masse. Leseprobe
Erst tags zuvor hat sich Hans unbotmäßig in die Hauptstadt durchgeschlagen: ein gerade 17-jähriger Bauernknecht aus Tirol, ein schlauer Junge, der seit Jahren zu harter Arbeit auf dem Hof gezwungen ist und heimlich Bücherbildung in sich hineinschaufelt. Nach Wien zieht es ihn, weil er dort die Psychoanalytikerin Helene Cheresch zu treffen hofft, die seine seltsame Gabe, das zu denken, was andere Menschen wenige Augenblicke später aussprechen werden, bewerten soll.
Raphaela Edelbauers Sprache knallt und fetzt
In der Hauptstadt, diesem brodelnden Kessel, in dem neue, umstürzlerische Ideen sich mit der althergebrachten Habsburger-Verschnarchtheit mischen, überwältigt ihn dann die komplett neue Erfahrung eines Lebens in Prunk und Verschwendung und erotischer Freizügigkeit. Er kannte es bisher nur anders:
Man lebte anhaltend in einer hitzigen Verschleierung der Gedanken. Es war unmöglich, einander ohne Überreiztheit zu begegnen; und wenn man das Verbotene schließlich versuchte, fiel man, ohne um Fähigkeiten des eigenen sowie Grenzen des anderen Körpers zu wissen, auf dem Heuboden ineinander. Man sagte: Ein Mann entlud sich. Eine Legion mit geschlossenen Augen gezeugter Kinder musste diskret entbunden werden und wurde schließlich vaterlos an den benachbarten Hof gesandt. So immerhin gingen die Knechte nie aus. Leseprobe
Hier ist Raphaela Edelbauer stark: wenn sie zeigt, wie sich materielles und körperliches Elend miteinander verknoten. Ihre Sprache knallt und fetzt und schafft verblüffende Bilder. Es bleibt bestehen, was ihre ersten beiden Romane offenbart haben: Raphaela Edelbauer ist eine wundervolle Autorin, von der noch viel Großes zu erwarten ist.
"Die Inkommensurablen": Reichlich überkonstruiert
Aber - wo viel erwartet wird, lugt immer auch die Enttäuschung um die Ecke: Wenn Hans im Hauruck in der ihm doch so fremden Stadt neue Freunde findet, wenn diese ihn trotz aller Standes- und Bildungsunterschiede spornstreichs in all ihre Geheimnisse um seltsame parapsychologische Phänomene einweihen, wenn sie, während um sie herum die Hölle tobt, doch immer die Zeit finden zu endlosen philosophischen Kontroversen und mathematischen Erörterungen, wenn schließlich all der mühsam aufgebaute Popanz hinauszulaufen scheint auf die ja nun nicht gerade bahnbrechende Erkenntnis, dass sich im Krieg auch die Kollektivpsychose einer Gesellschaft Bahn zeigt - dann fragt es sich schon, ob uns hier am Ende nicht etwas Untergewichtiges reichlich überkonstruiert dargeboten wird.
Vielleicht hat Raphaela Edelbauer selbst eine Spur gelegt, als sie zum Erscheinen ihres letzten Romans "Dave" sagte: "Für mich steht der Werkgedanke stärker im Vordergrund als die Frage nach gelungenen Einzelbüchern, auch wenn die Einzelbücher natürlich gelungen sein müssen, sonst sieht man das nächste nicht. Hoffentlich ergibt's dann insgesamt - auf die Jahrzehnte gesehen, die ich noch zu leben plane - dann auch als Ganzes gelesen einen Sinn. Ich habe einen heiligen Gral, der in der Mitte ist und dem ich mich annähere von verschiedenen Seiten. Manchmal ist es gelungener, manchmal weniger gelungen, aber es sind Bausteine, die mich lehren, wie ich nach ihm greifen kann."
Raphaela Edelbauer greift ins Leere
Es gibt den heiligen Gral auch in dieser Geschichte - hier heißt er "Luster", ein edler Kronleuchter, den Tausende von Menschen in einem scheinbaren Massentraum begehren wie sonst nichts. Aber sie greifen ins Leere - wie diesmal auch Raphaela Edelbauer.
Inkommensurabel sind in der Mathematik Maße, die keinen rationalen Bezug zueinander haben, die einfach nicht zusammenpassen. Dieser auf faszinierende Weise misslungene Roman ist inkommensurabel mit Raphaela Edelbauers bisherigem Werk.
Die Inkommensurablen
- Seitenzahl:
- 352 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Klett Cotta
- Bestellnummer:
- 978-3-608-98647-1
- Preis:
- 25 €