Cormac McCarthy: "Der Passagier" und "Stella Maris" im Doppelpack
Aktuell erscheinen gleich zwei neue Romane von Cormac McCarthy: "Der Passagier" und "Stella Maris". In beiden geht es um zwei Geschwister, Geheimnisse und - genial geschrieben - um das Ungesagte.
Der US-amerikanische Autor Cormac McCarthy gilt als einer der bedeutendsten Autoren seines Landes. Mit seinem Roman "Die Straße" erreichte McCarthy 2006 eine Millionen-Auflage: Der 1933 geborene Schriftsteller wurde unter anderem mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet.
Beim aktuellen Romandoppelpack bietet "Der Passagier" um den Bergungstaucher Bobby viele Geheimnisse, Unheimliches und ein Leben voller Trauer um die tote Schwester. "Stella Maris" hingegen spielt acht Jahre früher und handelt von der 20-jährigen Schwester, die sich in die psychiatrische Nervenheilanstalt Stella Maris eingewiesen hat. Der Roman ist ein Gespräch der genialen Mathematikerin und Violinistin mit ihrem Psychiater - über das Unbewusste.
"Der Passagier" - Geheimnisvoller Roman von Cormac McCarthy
1980. Ein Bergungstaucher schwebt durch den Rumpf eines abgestürzten Flugzeuges, tief im Wasser, vorbei an neun festgeschnallten Toten. Das Unheimliche, ein Passagier, Nummer zehn, fehlt …
Langsam schwamm er über den Sitzen durch den Passagierraum, seine Druckluftflaschen schleiften an der Decke entlang. Die Gesichter der Toten nur Zentimeter entfernt. Alles, was aufschwimmen konnte, hing an der Decke. Leseprobe aus "Der Passagier"
Bobby Western heißt der Taucher mit Tiefenangst, ein Einzelgänger, wortkarg, ein wettergegerbter Mittdreißiger. Wenn er eine Bar betritt, dreht man sich entweder weg oder erzählt ihm gleich sein ganzes Leben. Bobby hangelt sich von Job zu Job, haust in Motels, füttert seinen Kater, vor allem aber hat er ein Geheimnis. Er liebt seine Schwester. Nur ist die seit Jahren tot, hat sich erhängt im winterlichen Wald.
Beteiligung der Eltern am Atombombenprogramm
In "Der Passagier" ist dieser rätselhafte Bobby wie ein Faden, an dem man sich in ein Höhlensystem aus Worten und Motiven begibt. Seine Eltern waren an der Entwicklung der Atombombe beteiligt. Seit der Entdeckung des Flugzeugswracks wird er von Herren in schwarzen Anzügen verfolgt, vielleicht der Geheimdienst. Geheimnis reiht sich an Geheimnis, verworren wie die Wurzeln eines Mangrovenwaldes unweit von New Orleans.
Zwischendurch gibt es surreale Rückblicke: Die Schwester Alicia als Kind, zuhause bei der Großmutter, hat Erscheinungen, eine Gruppe Kleinwüchsiger wie aus einer Alice-im-Wunderland-Theateraufführung besucht sie. Bilder zwischen Traum, Wirklichkeit und Metaphysik. Der Roman wirkt unstrukturiert, bruchstückhaft, oft zu wuchtig. Es dämmert irgendwann, dass Bobby selbst der Passagier ist, ein Reisender zwischen Leben und Tod. Selten liest man so etwas Unheimliches, wenn er etwa einen Job auf einer sturmumtosten Ölbohrinsel erledigen muss:
Es war zwanzig nach zwei am Morgen. Er legte die Hand an den kalten Stahl des Schotts. Der tiefe Herzschlag im Inneren der Bohrinsel. Ungefähr zweitausend Pferdestärken. Er stand auf und ging auf Socken hinaus und in den Aufenthaltsraum. Er schaltete den Fernseher ein. Rauschen und weißer Schnee. Er probierte mehrere Sender und schaltete dann aus. Leseprobe aus "Der Passagier"
Stella Maris: Ein Dialog in einer psychiatrischen Heilanstalt
Das zweite Buch "Stella Maris" spielt 1972. Es steht nicht fest, welchen der beiden Romane man am besten zuerst liest. Stella Maris ist der Name einer psychiatrischen Heilanstalt. Dort lässt sich Bobbys Schwester Alicia einweisen. Sie ist 20, in der Hand eine Tüte voller Geld, eine geniale Mathematikerin und Violinistin. Der Roman besteht aus Gesprächsprotokollen zwischen ihr und ihrem Psychiater, ein einziger Dialog. Die Gespräche kreisen um Fragen nach dem Unbewussten, um Philosophie, um den Suizid, den Bruder, um die Liebe. Und: um Mathematik.
Wenn man zwei Tomaten mit zwei Tomaten multipliziert, erhält man nicht vier Tomaten, sondern zwei Tomaten hoch zwei. Und was ist diese zwei? Ein unabhängiger mathematischer Operator. Aha. Und was ist das? Das wissen wir nicht. Leseprobe aus "Stella Maris"
Genial geschriebene Romane Cormac McCarthys um das Ungesagte
Das Wesentliche ist das Ungesagte zwischen den Zeilen, das ist schlichtweg genial geschrieben. Ein endzeitlicher Wortwechsel am Rande des Verstands, am Rand der Welt. Wer lebt, wer tot ist, spielt das überhaupt eine Rolle?
Die Bücher lesen sich wie Geschwister, zwei Versuche, die Welt auszuloten. Als hätte der Atompilz, den die Eltern in der Wüste New Mexicos zu zünden halfen, die Zeit, ihre innere Logik verschoben. Bobby und Alicia, Königskinder, die sich nie erreichen, sind zwei Seiten des menschlichen Geistes, der angesichts des Nichts zerschellt. Was für ein Duett! Was für eine Sehnsucht nach einer Geste, die das alles hier, die uns, überlebt.
Dinge, die aus Licht bestehen. Sie brauchen unseren Schutz. Und dann, am Morgen, saßen wir am Strand und tranken Tee und sahen die Sonne aufgehen. Leseprobe aus "Stella Maris"
"Der Passagier" und "Stella Maris"
- Seitenzahl:
- 528 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Übersetzt aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl (Der Passagier) und von Dirk van Gunsteren (Stella Maris). "Stella Maris" hat 240 Seiten
- Verlag:
- Hanser Berlin
- Veröffentlichungsdatum:
- 22.11.2022
- Bestellnummer:
- 978-3-498-00337-1 / 978-3-498-00336-4
- Preis:
- 28 Euro und 24 Euro €