Buch-Cover: Maddie Mortimer - Atlas unserer spektakulären Körper © Atlantik Verlag

Maddie Mortimers Roman feiert den menschlichen Körper als Wunderwerk

Stand: 12.01.2023 06:00 Uhr

Die junge Britin Maddie Mortimer findet in ihrem Roman "Atlas unserer spektakulären Körper" Worte für eine unbeschreibliche Krankheit. Eine tief aufwühlende Geschichte, die von Anfang an wehtut.

von Juliane Bergmann

Kaum hat Maddie Mortimer angefangen, professionell zu schreiben, da hat die "Times" bereits Erzählungen von ihr veröffentlicht. Ihr Debütroman "Atlas unserer spektakulären Körper" schaffte es auf die Longlist des Booker Prize 2022.

Der Krebs ist zurück

Die vor Fantasie sprudelnde Illustratorin Lia führt ein unkompliziertes, gesetteltes Leben in London. So scheint es. Sie liebt ihren Mann - ihren sicheren Hafen - und ihre zwölfjährige Tochter Iris, die harmlos vor sich hin pubertiert. Allerdings schleppt Lia eine diffuse Angst mit sich umher. Ihre Befürchtung wird wahr. Selbst noch fassungslos überbringt sie zuhause die schlechten Nachrichten:

"Er ist wieder da", sagte Lia eines nischenlosen Sonntags zu einer fleckigen Wand, während sie Iris‘ Zimmer gelb strichen. Sie fühlte sich so feigherzig, so mutlos, so traurig. Iris nickte bedeutsam.

"Er" ist Lias Krebs. Eltern und Kind kennen die Krankheit nur allzu gut. Schon einmal hat Lia sich durch alles durchgeboxt: Chemo, Haarausfall, Brustamputation. Nun also die erneute Diagnose. Eine Tragik, die uns beim Lesen sofort umhaut.

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Maddie Mortimer erfindet eine neue Sprache

Maddie Mortimer erzählt in ihrem "Atlas unserer spektakulären Körper" eine tief aufwühlende Geschichte, die von Anfang an wehtut. Mutig erfindet die Autorin eine neue Sprache und Form für ihren Stoff. Die biestige Krankheit ergreift selbst das Wort:

Ich, Tintengrind, sinnend Ding, offenporig zu ihrem Beginn; nicht größer als eine Kapillare. Seither schmerze ich mich entlang ihrer Ränder. Hab mich durch Gewebe, Gewölbe, Gebein, Geknitter, Geknote geschmeckt, gesplittert, gesickert und gekaut, so viel, so gut, so zäh, dass mir der Ort jetzt erscheint wie meiner.

Das Geschwür ist nicht ausschließlich böse. Es mag Lias Lachen, ihre Stärke, ihre Erinnerungen. Aufgewachsen ist Lia als Atheistin in einem streng religiösen Elternhaus. Besessen lief sie jahrelang ihrer ersten Liebe, einem störrischen, unbeherrschten Kerl hinterher. Das gemeinsame Kind hat sie behalten. Sie weiß, was es heißt, zu kämpfen. Jetzt fehlt ihr jedoch die Kraft, es mit der Krankheit aufzunehmen. Mortimer beschreibt unglaublich nachvollziehbar die Zerrissenheit dieser Figur. Zwischen Wut und Ratlosigkeit, zwischen Hoffnung und Todesangst. Auch die Gefühle der Tochter bringt die Autorin beeindruckend und überraschend poetisch auf den Punkt:

Die Wolken waren ungewöhnlich fleischrosa. Ihre kleine beobachtende Seele schauderte den ganzen Weg bis zu den maroden Schultoren, deren Kupfer am unteren Rand verrottete. Membranwände können die schlechten Zellen nicht immer von den guten unterscheiden, dachte sie. Manchmal kommen all die Schrecken einfach hereingeflutet.

"Atlas unserer spektakulären Körper": Verstörend und erbauend zugleich

Beim Lesen durchleben wir mit Lia und ihrer Familie die Höhen und Tiefen der Krankheit. Erstaunlich: Das ist verstörend und erbauend zugleich. Das Buch feiert den menschlichen Körper als Wunderwerk, als unser aller Ursprung und nicht zuletzt als riesigen Kosmos für Geschichten - voller Takt, Bewegung, Entstehen und Vergehen. In Lias Innerem tobt und tanzt es: Das Geschwür versammelt um sich herum sonderbare, mitunter herrliche Wesen - Gelb, Samt, Gärtner, Taube, Fossil - alle sind sie metaphorische Ebenbilder von Lias Mitmenschen.

Dieser Roman erlaubt sich und uns alle Gefühle, die einen solchen Leidensweg begleiten: von den düsteren bis zu den hellen. Maddie Mortimer findet Worte für eine unbeschreibliche Krankheit. Sie selbst hat im Teenageralter ihre krebskranke Mutter verloren. Ihr brillanter Text ist Trost, Halt und Frieden. Für sich, für uns. Atemberaubend.

Atlas unserer spektakulären Körper

von Maddie Mortimer
Seitenzahl:
480 Seiten
Genre:
Roman
Zusatzinfo:
Aus dem Englischen von Maria Meinel
Verlag:
Atlantik
Bestellnummer:
978-3-455-01516-4
Preis:
25 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Bücher | 12.01.2023 | 12:40 Uhr

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