Lyriksammlung "Der ewige Brunnen": Neuausgabe enthält auch Songtexte
Der Jenaer Literaturwissenschaftler Dirk von Petersdorff hat die Neuausgabe der deutschen Gedichtsammlung "Der ewige Brunnen" ordentlich entstaubt und sogar Songtexte mit aufgenommen. Ein Gespräch.
Wir alle mögen Gedichte, poetische Texte, klangvolle Reime oder auch völlig abstrakte Wortspiele. Und doch verkaufen sich Lyrikbände total schlecht. Wenn's gut läuft, gehen gerade mal 1.000 bis 2.000 Exemplare eines aktuellen Gedichtbands über den Ladentisch. Gut verkaufte Romane dagegen erreichen Zehntausender-Auflagen und mehr. Dirk von Petersdorff, gebürtiger Kieler, ist in Jena Professor für Neuere Deutsche Literatur, schreibt selbst Lyrik und gibt Bücher heraus mit und über Lyrik.
Herr von Petersdorff, wie kommt es, dass wir so wenig Gedichte lesen?
Dirk von Petersdorff: Es mag sein, dass vielen von uns in der Schule ein bisschen die Freude daran verdorben wird, wo wir gelernt haben, dass wir die interpretieren müssen - und das ist etwas Anstrengendes. Vielleicht liegt es aber auch an der Gegenwartslyrik, die tatsächlich manchmal ein bisschen spröde und schwer verständlich sein kann. Ich glaube aber nicht, dass Menschen, die Gedichte nicht sonderlich schätzen, alle Formen von Lyrik ablehnen - das kommt auf den Begriff von Lyrik an. Wenn man zum Beispiel Songtexte dazurechnet, was ich auf jeden Fall tun würde, ist es erstaunlich, dass viele Leute diese Texte nach wie vor auswendig kennen und sie begeistert mitsingen. Die sprechen sie auch an.
In der Schule mussten wir eher klassische Gedichte lesen und auch noch auswendig lernen. Das ist für manche nicht so einfach gewesen. Ist das eine Hürde, dass schon der falsche Zugang so früh anfängt?
Dirk von Petersdorff: Vielleicht ist ein einseitiger Zugang eine Hürde. Ich glaube, das Wichtigste, was die Schule in dem Bereich erreichen kann, ist, dass Menschen sagen, wenn sie aus der Schule kommen: Ich möchte auch später im Leben freiwillig ein Gedicht lesen. Weil ich gemerkt habe, dass mir das etwas bedeuten kann in einer Situation, wo ich traurig, fröhlich, irgendwie melancholisch bin oder eine Frage, eine Schwierigkeit habe. Dann kann ein Gedicht wie eine Antwort sein! Ein Gedicht gehört in den Alltag und ist nicht irgendetwas, das ich halb-heilig anstarren muss und gleich weiß, dass ich es sowieso nicht richtig verstehe werde.
Warum kann ein Gedicht eher eine Antwort sein als ein Prosatext? In Gedichten gibt es ja viele Leerstellen.
Dirk von Petersdorff: Gerade aufgrund dieser Kürze kann es das, glaube ich! Das verbindet Gedichte wieder mit Songtexten, die auch nur zwei bis drei Minuten dauern. Gerade diese Kürze und Gedrängtheit sind eine Stärke. Aber auch, weil ein Gedicht uns nicht nur über die Vernunft anspricht, sondern einen Rhythmus und einen Klang hat. Das hat auch eine körperliche Wirkung auf Menschen. Das tut uns oft gut, und dann fühlen wir uns vielleicht beruhigt, angestachelt oder wie auch immer.
Seit den 50er-Jahren gibt es die klassische deutsche Lyriksammlung "Der ewige Brunnen". Darin sind deutschsprachige Gedichte aus zwölf Jahrhunderten versammelt. Diese Sammlung blieb 50 Jahre lang unverändert, bis 2005 schon einmal ein frischer Wind hineingebracht wurde: Viele Gedichte wurden gestrichen, neue hinzugefügt. Und jetzt gibt es wieder eine neue Ausgabe, die Sie herausgegeben haben. Und auch Sie haben einiges verändert. Wollten Sie auch ein bisschen den Staub von der Lyrik wegpusten?
Dirk von Petersdorff: Auf jeden Fall, das ist eine ganz normale Entwicklung, dass man merkt, dass um uns herum sich die Welt ändert, auch unsere Gefühle, unsere Art, über Gefühle zu sprechen. Und dann interessieren uns neue Gedichte, aber vielleicht auch alte, die uns plötzlich wieder ansprechen. Das ist also ein ganz wichtiger Prozess, das zu erneuern.
Sie haben eben auch Songtexte in die Reihe großer deutscher Gedichte mit aufgenommen. Udo Lindenberg, Sven Regener und Judith Holofernes finden sich da gleichwertig neben Heinrich Heine oder Mascha Kaléko. Sind solche Musikschaffenden und ihre Texte also gleichermaßen große Dichter und Dichtungen?
Dirk von Petersdorff: Man muss einfach prüfen, ob ein Songtext interessant genug ist, dass man ihn auch lesen mag, auch ohne Musik. Vor ein paar Jahren hat Bob Dylan den Nobelpreis für Literatur erhalten - das war ein Zeichen, dass Songtexte so etwas können. Wenn ich zum Beispiel zu einem Udo-Lindenberg-Konzert gehe, da wundere ich mich oder freue mich auch, dass da Menschen zwei Stunden lang diese Texte komplett auswendig mitsingen. Was früher Volkslieder waren, das sind heute diese Songs, und deshalb gehören sie auch da rein - neben Hölderlin und anderen Gedichten. Das soll nicht verengt werden, das soll ein weiter Begriff von Lyrik sein.
Somit könnte man auch langfristig das Interesse an Lyrik erhalten, oder?
Dirk von Petersdorff: Das ist die Hoffnung mit der Neuausgabe. "Der ewige Brunnen" ist schon 80 Jahre alt. Für manche Menschen, die ungefähr 80 sind, war das damals die erste Begegnung mit Gedichten. Und so soll es im besten Fall jetzt mit der Neuausgabe sein, dass manche merken: Gedichte sind etwas, womit ich was anfangen kann, das spricht mich an. Ich kann aus dieser großen Zahl einiges auswählen und dann vielleicht weiterlesen.
Songtexte sind meist relativ leicht zugänglich. Aber es gibt auch moderne Lyrik, die nicht so leicht konsumierbar ist. Das ist ein bisschen wie bei moderner Kunst: Damit muss man sich beschäftigen, um die Aussage zu verstehen. Muss man also eine gewisse Bereitschaft für moderne Lyrik mitbringen?
Dirk von Petersdorff: Vielleicht eine Bereitschaft, sich auf etwas einzulassen. Sie vergleichen das zurecht mit moderner Kunst. Manchmal sehe ich im Museum etwas, was ich auch nicht sofort verstehe. Aber vielleicht ist irgendetwas da, womit ich mich gern näher beschäftigen würde. Das ist sicherlich bei Gedichten auch so, dass man sich durchaus für Gedichte Zeit lassen sollte, sie auch mehrmals lesen sollte. Es geht aber auch nicht immer um vollständiges Verstehen, sondern dass da irgendetwas ist, was einem etwas bedeutet. Dann lese ich es noch mal, und dann ist auch gut.
Ist denn so etwas wie ein "Welttag der Poesie" besonders nötig?
Dirk von Petersdorff: Wenn er dabei hilft, dass Menschen sich wieder Gedichte angucken, dann ist das gut und dann sollten wir das auch unterstützen.
Was raten Sie jemanden, der gerne mehr Lyrik lesen würde, der aber nicht weiß, wo er anfangen soll?
Dirk von Petersdorff: Ich würde erstmal natürlich zu dem "ewigen Brunnen" raten, aber auch zu anderen Auswahlausgaben. Ich glaube, es ist schwierig, wenn man einen Band mit 500 Goethe-Gedichten nimmt und nicht weiß, wo man anfangen soll. Deshalb gibt es ja diese Auswahlbände für einen ersten Zugang. Und wenn man dann einen Autor oder eine Autorin entdeckt, die einem zusagt, kann man weiter lesen.
Das Interview führte Julia Westlake.