"Der Verlust ist unendlich groß": Zum Tod von Hans Magnus Enzensberger
Hans Magnus Enzensberger ist im Alter von 93 Jahren gestorben. Enzensberger war Lyriker, Autor, Herausgeber - einer der intellektuellen Begleiter Deutschlands. Ein Gespräch mit Joachim Dicks aus der NDR Kultur-Literaturredaktion.
Was für sprachliche Mittel standen ihm zur Verfügung?
Joachim Dicks: Vor allem poetische Sprachmittel waren es, mit denen Hans Magnus Enzensberger auf sich aufmerksam machte. "Verteidigung der Wölfe" heißt sein erstes Buch, das er 1957 veröffentlicht hat. Da war er 28 Jahre alt und hatte bereits erste Erfahrungen bei Alfred Andersch in einer Radioredaktion gesammelt. Und auch wenn er manchmal Jahre verstreichen ließ ohne Gedichtband und stattdessen Essays, Romane, Erzählungen, Dramen, Kinder- und Jugendbücher und Übersetzungen veröffentlichte - sein zuletzt veröffentlichtes Buch war wieder ein Gedichtband. "Wirrwarr" erschien vor zwei Jahren. Da war er bereits 91 Jahre alt.
Seine Poesie war vor allem durch Präzision, Gedankenreichtum und Verwandlungsfähigkeit geprägt - und eine ganz eigene enzensbergerische Moral, die daran bestand, sich auf gar keinen Fall festlegen zu lassen. Der Publizist Fritz J. Raddatz hat es mal auf den schönen Begriff "tänzerische Widerspruchsbegabung" gebracht. Hannah Arendt sprach von "Scheinradikalismus".
Hans Magnus Enzensberger ist kaum zu trennen von der Literaturgeschichte der Nachkriegsbundesrepublik: Gruppe 47, später das Kursbuch, dann Theaterstücke, Essays, Erzählungen und immer wieder Gedichte. War er dabei Akteur oder eher Beobachter?
Dicks: Das ist eine Frage, die, glaube ich, ihm selbst sehr gut gefallen hätte. Denn in seiner poetischen Weltsicht gab es diesen Unterschied nicht in letzter Konsequenz. Was ist ein Akteur, wenn er nicht gut beobachten kann? Was ist ein Beobachter, wenn er aus seinen Beobachtungen nicht auch Taten hervorgehen lässt? Und ist nicht auch die Publikationen eines Buches, das aus Beobachtungen und Reflexionen hervorgegangen ist, eine Tat?
Wenn ich an seinen Essay "Journalismus als Eiertanz" oder seine Analyse des "Spiegel"-Jargons denke und auch seine viel spätere Kritik an der Überwachung durch die Neuen Medien, so dass er die provokante These vertrat, wir lebten längst in einer postdemokratischen Zeit, dann sehe ich auch wie aus dem Beobachter ein Akteur wird. Oder sein Versepos "Der Untergang der Titanic", in dem er nicht nur auf die revolutionären Hoffnungen der 1960er-Jahre zurückblickte, sondern sich auch generell über Untergangsfantasien lustig machte: sicher noch einmal eine gute Lektüre für unsere Zeiten des Klimawandels.
Enzensberger strahlte, wenn man ihm zuhörte, immer eine Art heitere Gelassenheit aus, eine Ironie. Aber was war ihm ernst?
Dicks: Für ihn war Heiterkeit und Ernsthaftigkeit kein Widerspruch. Ironie und Engagement ebenso wenig. Insofern würde ich sagen: Es gab nichts, was er nicht mit großer Ernsthaftigkeit gemacht hat. Man denke etwa ans "Kursbuch" und "Die andere Bibliothek", womit er zahlreichen anderen Autorinnen und Autoren eine Bühne geschaffen hat. Wahrscheinlich war seine große Produktivität ohne diese Leichtigkeit, also Ernst und Ironie zusammennehmen zu können, gar nicht möglich.
Mit Hans Magnus Enzensberger verlieren wir vielleicht auch eine Stimme aus der Literatur, aus der Kunst, bei der viele aufgemerkt haben. Wie groß ist dieser Verlust?
Dicks: Der Verlust ist unendlich groß. Aber wenn ein Mensch im Alter von 93 Jahren geht, dann sollte in jedem Fall die große Dankbarkeit bei der Nachwelt vorherrschen. Hans Magnus Enzensberger hat uns mit seinem erstaunlich vielschichtigen Werk ein großes Geschenk gemacht. An uns ist es jetzt, es einmal mehr anzunehmen und ihn weiter und wieder zu lesen. Wie wäre es mit "Lyrik nervt! Erste Hilfe für gestresste Leser" oder seinem Bestseller "Der Zahlenteufel. Ein Kopfkissenbuch für alle, die Angst vor der Mathematik haben."?