"Hitler-Tagebücher": Die Recherchen und Hintergründe

Stand: 23.02.2023 18:00 Uhr

von John Goetz

Die "Hitler-Tagebücher" wurden nicht spontan geschrieben. Man sieht, dass sich Leitmotive durch den Text ziehen. Sie sollen offenbar die Art und Weise, wie die Welt über Hitler und die Nazis denkt, verändern. Zumindest bei einem Leser ist dies gelungen.

Im Januar 1983, mehrere Monate vor der "Stern"-Veröffentlichung, wird in einem Bericht des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit behauptet, der "Stern"-Herausgeber Henri Nannen habe einem Vertrauten verraten, dass seine Zeitschrift plane, geheime Dokumente aus der NS-Zeit zu veröffentlichen, die eine Neubewertung Adolf Hitlers und des Nationalsozialismus bewirken würden. Diese Stasi-Mitteilung ist überraschend, da Nannen bereits im Juli 1982 von dem Zeithistoriker und Hitler-Forscher Werner Maser gewarnt worden war, dass Heidemann Fälschungen kaufe und der "Stern" vorsichtig sein solle.

Angebliche Typhus-Epidemie als Vorwand

Eines der Leitmotive in den fiktiven "Hitler-Tagebüchern" ist die sogenannte "Typhus-Fälschung", eine auch unter Holocaust-Leugnern beliebte revisionistische Argumentationsfigur. So schreibt Kujaus "Hitler":

"Himmlers Meldungen über den Seuchenherd in den Judenwohngebieten in Warschau häufen sich. Soll ich mich darum auch noch kümmern?" (31.7.1942) Auszug aus den gefälschten "Hitler-Tagebüchern"

Wie der Journalist und Rechtsextremismus-Experte Anton Maegerle beobachtet hat, versuchten führende deutsche Neonazis in der Bundesrepublik immer wieder, den Tod von mehr als 80.000 im Warschauer Ghetto internierten Juden mit einer Typhus-Epidemie zu erklären. Dieses Pseudo-Argument benutzte zum Beispiel der neonazistische Rechtsanwalt und spätere NPD-Funktionär Jürgen Rieger Anfang der 1980er-Jahre vor Gericht - also etwa in dem Zeitraum, in dem Kujau an den "Tagebüchern" arbeitete.

"Rieger trat Ende 1981 als Verteidiger des Hauptangeklagten in einem Prozess gegen ehemalige SS- und Polizeiführer in Hamburg auf, während dessen Verlauf er den Gerichtssaal nach Ansicht anwesender Journalisten in eine Nazi-Propagandabühne umfunktionierte und beispielsweise behauptete, das Warschauer Ghetto sei wegen der Bekämpfung einer Typhus-Epidemie entstanden", so ein Bericht des Bayrischen Rundfunks vom 14. Juni 1989.

Narrativ um einstiges Nazi-Idol Rudolf Heß

Das ist nicht die einzige Version des NS-Revisionismus, die damals in der Bundesrepublik Anhänger fand. Es gibt noch eine andere. Sie ist ausgesprochen wirkungsvoll und dreht sich um Rudolf Heß, den einstigen "Stellvertreter des Führers".

In der Welt der alten und neuen Nazis ist die Heß-Legende ein elektrisierendes und bedeutendes Narrativ. Sie ist der Grund, weshalb NSU-Mitglieder in den 1990er-Jahren für Rudolf Heß demonstrieren. Sie ist auch der Grund, warum die Gruppe um Michael Kühnen in den 1970er-Jahren Pläne schmiedet, Heß aus dem Gefängnis Spandau zu "befreien". Die im rechtsradikalen Milieu dieser Zeit so wirkmächtige und beliebte Heß-Legende ist ein weiteres, bedeutsames und offenkundig nicht zufälliges Leitmotiv in Kujaus fiktiven "Hitler-Tagebüchern".

Heß nach Flugreise in Schottland verhaftet

Die Ereignisse des 10. Mai 1941, nur wenige Wochen vor dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion, sind unter Historikern zu Beginn der 1980er-Jahre, zur Zeit der "Stern"-Veröffentlichung der "Tagebücher", umstritten. An diesem Tag flog Rudolf Heß, Hitlers Stellvertreter und einer der hochrangigsten NSDAP-Funktionäre, nach Schottland. Er wollte sich mit einem britischen Aristokraten treffen, von dem er annahm, er sei offen für ein Friedensabkommen mit Deutschland. Nach seiner Ankunft in Großbritannien wurde Heß bis zum Kriegsende inhaftiert und danach in den Nürnberger Prozessen als Kriegsverbrecher zu lebenslanger Haft verurteilt. In den späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren wurde unter Historikern darüber diskutiert, ob Heß mit Hitlers stillschweigender Billigung nach Schottland geflogen war oder ob er auf eigene Faust handelte. Heute besteht Konsens darüber, dass er seinen Flug ohne Hitlers Wissen unternommen hat.

Neonazis: Hitler wollte angeblich Friedensgespräche mit Briten

Die extreme Rechte und die Neonazis in der Bundesrepublik kultivieren in den 1970er-Jahren die Überzeugung, dass Heß im Auftrag Hitlers nach Schottland geflogen sei. In ihrer Vorstellung wollte Hitler keinen Krieg, zumindest nicht den Krieg mit Großbritannien. Hitler soll demnach mit der Hilfe von Heß 1941 versucht haben, die Briten von Friedensverhandlungen oder einer gegenseitigen Neutralität zu überzeugen. Diese Wunschkonstruktion der rechtsradikalen Hitler-Verehrer unterstellt ihrem Idol die Idee, dass das Vereinigte Königreich sein Imperium behalten, aber zumindest neutral bleiben könnte, während Deutschland Krieg gegen Sowjetrussland führt. Churchill habe den Vorschlag jedoch abgelehnt, weil er, so das antisemitische Narrativ, unter der Kontrolle "der Juden" gestanden habe.

Heß-Sohn setzt sich für den Vater ein

Einer der wichtigsten Propagandisten dieser Erzählung vom "Friedensengel Heß" ist in dieser Zeit sein Sohn Wolf Rüdiger Heß. Als die gefälschten "Tagebücher" 1983 erscheinen, lebt Rudolf Heß noch und verbüßt seine lebenslange Haftstrafe im Gefängnis in Berlin-Spandau. Sein Sohn engagiert sich in einer internationalen Kampagne für ihn. Heß junior ist der Gründer der Organisation "Hilfsgemeinschaft Freiheit für Rudolf Heß", die sich nicht nur für die Freilassung von Rudolf Heß, sondern auch für seine Rehabilitierung, als Hitlers angeblicher Friedensgesandter, einsetzt. Wolf Rüdiger Heß bewegt sich auch in Holocaust-leugnenden Kreisen. Er tritt 1992 sogar als "Ehrengast" auf einer Konferenz des Institute for Historical Review (IHR) auf, einer Organisation, die das perverse Versprechen einer "Belohnung" für jeden macht, der die Existenz von Gaskammern in Auschwitz beweisen könne - eine gezielte Verhöhnung der Opfer des Völkermords an den europäischen Juden.

Verquere Theorie

Für rechte Verschwörungstheoretiker ist nicht die Mitschuld von Rudolf Heß an Kriegsverbrechen, sondern im Gegenteil seine angebliche Friedensmission der wahre Grund dafür, dass ihn die Alliierten so lange in Haft behalten. Die Heß-Legende liefert die scheinbar logische Erklärung dafür, dass die britische Regierung sich weigert, die Heß-Akten freizugeben. Wenn Heß freigelassen werde, so die Annahme rechtsradikaler Geschichtsrevisionisten, sei er in der Lage, die "wahre" Geschichte zu enthüllen. In ihrer verqueren Theorie wollte Churchill den Krieg und hat die westlichen Werte verraten, indem er sich mit einer angeblich jüdisch dominierten Sowjetunion verbunden hat, um Deutschland zu besiegen.

Falsche "Hitler-Tagebücher" liefern "Beweis" für Friedensmission

Das Problem dieser Erzählung ist natürlich, dass sie nicht stimmt. Deshalb gibt es keine Beweise, die sie belegen könnten. Sie speist sich allein aus rechtsradikaler Ideologie und revisionistischem Wunschdenken. Die "Hitler-Tagebücher" bieten die Lösung für dieses Problem. Sie liefern scheinbar den dringend benötigten "Beweis" dafür, dass Heß tatsächlich im Auftrag Hitlers in einer Friedensmission nach Schottland geflogen ist. Genau so schreibt es dann auch der "Stern" in seiner spektakulären Titelgeschichte: "Bevor Heß am 10. Mai 1941 mit seiner Messerschmitt startete, hatte er alle wesentlichen Details des Unternehmens mit Hitler durchgesprochen." Hitler-Verehrer wie Michael Kühnen und andere Anhänger der Heß-Legende wie Heß junior hätten es vermutlich nicht sehr viel anders formuliert.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Reschke Fernsehen | 23.02.2023 | 23:35 Uhr

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