"Hitler-Tagebücher": Die Recherchen und Hintergründe

Stand: 23.02.2023 18:00 Uhr

von John Goetz

2006, viele Jahre nach der Verjährung der Fälschungsstraftaten, schreibt ein Neonazi-Weggefährte Zaulichs namens Thomas Brehl, ein enger Vertrauter auch Michael Kühnens, in seiner Autobiografie über die Zusammenarbeit von Kujau und Zaulich im Hitler-Devotionalienhandel: "So fuhren Kujau, Zaulich und einige andere des öfteren von Flohmarkt zu Flohmarkt und verkauften Hitlerbilder, was damals strafrechtlich zwar auch schon verboten, aber nicht annähernd so gefährlich war wie heute. Diese Bilder hatten sie in Zaulichs kleinem privaten Fotolabor hergestellt. Irgendwie war Lothar in den Besitz von 5.000 Originalnegativen aus dem Dritten Reich gekommen und so konnte die Truppe um Kujau nach Herzenslust Führerbilder produzieren, um sie später zu verkaufen … Jedenfalls kam der ideenreiche Lothar irgendwann auf die Idee, dass man Führerbilder für ein Vielfaches des Preises verkaufen könne, wenn sie denn nur von Hitler signiert wären. Das wiederum - so Konrad Kujau - sollte das Problem nicht sein. Der bekannte Historiker Werner Maser hatte nämlich eine ganze Reihe handschriftliche Dokumente Adolf Hitlers veröffentlicht. Aus diesen wurde in Lothars Labor die Unterschrift des Führers abfotografiert, um sie sodann auf weißes Papier zu projizieren. Mittels dieser Projektionen übte dann der spätere "Hitler-Tagebuch"-Fälscher Konrad Kujau das Autogramm Hitlers stundenlang, bis er es mit äußerster Präzision in jeder Lebenslage aus dem Handgelenk schreiben konnte."

Konrad Kujau: Mehr als ein kleinkrimineller Clown

In den Jahren nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis 1986 bis zu seinem Tod im Jahr 2000 inszenierte sich Kujau als eine Art öffentlicher Hofnarr. Damit brachte er es in Dutzende Talkshows und Magazinsendungen, er erhielt auch einen Auftritt bei Thomas Gottschalk und präsentierte sich als kleiner, dicker Mann, der aufgeblasene Medientypen öffentlich vorgeführt hatte. Aber es wirkte nicht so, als hätte sich dieser lustige, kleinkriminelle Clown zuvor an der engen Verbindung seines Freundes und Geschäftspartners Zaulich zu Kühnens Neonazi-Kameradschaft und den Holocaust-Leugnungen gestört.

Kujaus Polizeiakte beginnt nicht erst mit dem Fälschungs-Skandal. 1973 befindet ihn ein Stuttgarter Gericht für schuldig, mit einer geladenen 9-mm-Automatikpistole MKII in ein Tanzlokal namens "Balzac" marschiert zu sein, um nach einem jugoslawischen Migranten zu suchen. Kujau war davon überzeugt, der Mann habe sein Auto aus Hass auf seinen Nazi-Devotionalien-Handel beschädigt.

Zeugen: Kujau hat sich selbst als Neonazi bezeichnet

Nach Berichten mehrerer Zeugen soll sich Kujau in dieser Zeit wiederholt als Neonazi bezeichnet haben. Lothar Zaulich gab in den Polizeiverhören an, er habe Fotos von Kujau in SS-Uniform gemacht. Noch während seiner Untersuchungshaft rühmte sich Kujau 1984 in einem Interview mit dem "Spiegel", echte Uniformen der SS-Größen Himmler und Heydrich zu besitzen und diese auch getragen zu haben.

Selbst bei seinen Besuchen in der DDR lobte Kujau das "Dritte Reich", hielt die DDR-Staatssicherheit schon vor dem "Stern"-Skandal in ihren MfS-Berichten fest. Zeitgleich zu Kujaus Fälschungsarbeit an den "Hitler-Tagebüchern" ermittelte der DDR-Nachrichtendienst des Ministeriums für Staatssicherheit gegen ihn, weil er Anfang 1981 versucht hatte, Nazi-Literatur in die DDR zu schmuggeln. 1982 erklärte ein Zeuge gegenüber dem MfS, Kujau habe ihm gesagt, er sei "Neonazi und will die Arbeit oder das Werk seines Vaters, der Mitgl. der NSDAP war, vollenden".

SS-Ring mit Unterschrift Himmlers

Bei seiner Verhaftung 1983 trug Kujau einen SS-Ring, in den eine Imitation der Unterschrift Himmlers eingraviert war. In seiner Stammkneipe soll er regelmäßig den Hitlergruß gezeigt und dabei gelegentlich auch SS-Uniform getragen haben. Sein Anwalt Peter Stöckicht gab an, Kujau habe sich selbst als "Nationalsozialist" bezeichnet. Einmal habe er in SA-Uniform ein "Judenlokal" betreten und "Sieg Heil!" gerufen.

Wie ernst solche geschmacklosen Manöver gemeint waren, wie viel oder wenig Alkohol Kujau dabei im Blut hatte und ob der Hitler-Devotionalien-Handel seiner politischen Überzeugung, seiner Geschäftstüchtigkeit oder beidem diente, wissen wir nicht. Aber offenkundig ist, dass er keine Berührungsängste gegenüber Rechtsradikalen hatte, weder gegenüber den toten Größen des Nationalsozialismus noch gegenüber einem Stuttgarter Neonazi wie Lothar Zaulich.

Henri Nannen nicht sehr gut informiert

Vor diesem Hintergrund ist die Aussage des "Stern"-Herausgebers Henri Nannen bemerkenswert, er bezweifle, dass die bundesrepublikanische NS-Gemeinde für die "Hitler-Tagebücher" verantwortlich sein könnte: "Gegen die dem 'Stern' vorgehaltene Verdächtigung, die 'Tagebücher' stammten aus rechtsextremistischen Quellen, spricht allein der Inhalt. Denn der Hitler der 'Tagebücher' ist kein weißgewaschener oder harmloser Geselle. Neonazis hätten an ihm keine Freude gehabt", erklärte Nannen. Er war nicht sehr gut informiert.

Unverständnis sogar in rechten Kreisen

Die online veröffentlichte Autobiografie des Neonazi-Kaders Thomas Brehl, des zeitweiligen Stellvertreters Michael Kühnens, gibt Auskunft darüber, wie der harte Kern der Neonazis damals den Skandal um die gefälschten "Tagebücher" ihres Idols Hitler wahrgenommen hat:

"Als Kujau 1983 aufflog und mit ihm der größte Presseskandal der Mediengeschichte bekannt wurde, da trat das Hamburger Landeskriminalamt auch bei Lothar Zaulich die Türe ein und beschlagnahmte aus seinem Fotolabor die gesamten 5.000 Originalnegative. Weder Michael Kühnen noch ich verstanden es damals, dass die Verstrickung des Pressechefs der 'neonazistischen ANS/NA' in die 'Stern-Affäre' von den Behörden, zumindest aber von den Medien totgeschwiegen wurde." Neonazi Thomas Brehl

Im März 1984 stellte die Polizei die Ermittlungen gegen Zaulich ein, da sie nicht beweisen konnte, dass er an den Fälschungen speziell der "Tagebücher" beteiligt war. Zaulich saß ab September 1981, also während Kujaus Arbeit an den Fake-"Tagebüchern", eine 14-monatige Gefängnisstrafe wegen "Verbreitung von neonazistischem Propagandamaterial und Verwendung von Nazi-Emblemen" ab.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Reschke Fernsehen | 23.02.2023 | 23:35 Uhr

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