"Hitler-Tagebücher": Die Recherchen und Hintergründe
Der NDR Journalist John Goetz beschreibt die Hintergründe des "Stern"-Skandals 1983 und berichtet über neue Recherche-Ergebnisse. Spannend: Zahlreiche Quellen sind bisher unbeachtet geblieben.
Die "Hitler-Tagebücher" sind ein journalistischer Cold Case. Sie sind eine in den Archiven abgelegte und abgehakte Geschichte, ein gesellschaftlicher Kriminalfall, der auch nach 40 Jahren noch nicht vollständig aufgeklärt ist. Von den damaligen Beteiligten lebt nur noch Gerd Heidemann, der Reporter, der die Geschichte damals angeschleppt hat. Er ist im Frühjahr 2023 91 Jahre alt. Alle anderen Zeugen sind tot. Nur noch Papier erzählt. Nur noch Dokumente berichten.
Diese Recherche ist ein Wiederaufnahmeverfahren. Es ist der Versuch, "missing links" zu füllen und offene Fragen zu beantworten und vielleicht mehr noch: überhaupt neue Fragen zu finden. Alle Quellen sollten noch einmal geprüft werden, alle Dokumente noch einmal mit neuem Blick gewürdigt werden.
Zahlreiche bisher unbeachtete Quellen gefunden
Schon bald stellte sich heraus, dass es zahlreiche Quellen gibt, die bisher unbeachtet blieben. Ein Beispiel unter vielen: Gerd Heidemann hat, während er die "Tagebücher" recherchiert und beschafft hat, viele seiner Telefongespräche aufgezeichnet. Von diesen Aufzeichnungen tauchen nur einige seiner Gespräche mit Kujau in den bisherigen Dokumentationen des Falls auf. Aber er hat sich auch mit anderen Beteiligten ausgetauscht und Gespräche mitgeschnitten. Sie sind erhellend.
Seltsamerweise sind die gefälschten "Tagebücher" selbst die am wenigsten genutzte Quelle. Kaum jemand hat sie vollständig gelesen, also alle 60 Bände und Sonderbände komplett durchgearbeitet. Dabei sind sie das Corpus Delicti, das etwas enthält, das jeden Kriminalisten aufhorchen ließe: eine Täterhandschrift. Und Täterhandschriften können etwas über Motive erzählen, und manchmal vielleicht mehr. Wahrscheinlich ist der Text der Tagebücher selbst das wichtigste Dokument des "Stern"-Skandals.
Was sollte damals die neue historische Wahrheit sein?
Dabei kann man eigentlich niemanden vorwerfen, sie nicht gelesen zu haben. Es schien wie Geschwafel eines mittelmäßigen schwäbischen Fälschers. Fast alle, die reingeschaut haben, fanden es langweilig und irrelevant. Und trotzdem bleibt eine zentrale Frage offen: Was steht in den gefälschten Tagebüchern, die dem "Stern" so viel Geld wert waren? Was sind die Details, was ist der Plot? Was genau sollte uns damals als neue historische Wahrheit vermittelt werden?
Verlag Gruner + Jahr erlaubt nur 60 Minuten Lesezeit
Es ist nicht so leicht, diese Fragen zu ergründen, denn die Originalbänder der "Tagebücher" liegen fest verschlossen im Safe von Gruner + Jahr. Der Verlag erlaubt auch vier Jahrzehnte nach dem Skandal nicht, dass Interessierte die fraglichen Dokumente gründlich einsehen. Das Team dieser Recherche hat von Gruner + Jahr auf Nachfrage 60 Minuten Lesezeit im Verlagsgebäude eingeräumt bekommen. Eine einzige Stunde also für insgesamt 60 Bände und rund 2.000 Seiten. Das alles in kaum lesbarer deutscher Handschrift. Mit Aufpasserin. Ohne Fotos. Aber es gibt andere Quellen, Kopien der Bände.
Dank der Bemühungen meines Kollegen Antonius Kempmann konnten wir uns Kopien des ersten Teils der gefälschten "Tagebücher" verschaffen, die Aufzeichnungen von Kujau-Hitler der Jahre 1932 bis 1939. Auf diese Kopien ist Kempmann im Nachlass der 2012 in Cambridge verstorbenen britischen Journalistin Gitta Sereny gestoßen. Kopien der Fake-"Tagebücher" aus den späteren Jahren, bis kurz vor Kriegsende und dem Tod des Diktators, konnten wir uns von einigen Anwälten beschaffen, die nach dem Auffliegen der Fälschungen und dem "Stern"-Skandal in die nachfolgenden Gerichtsverfahren involviert waren. Für diese Recherche wurde erstmals Hitlers gefälschte Handschrift mit der Hilfe einer lernenden KI-Software übersetzt und ein komplettes Transkript erstellt. Plötzlich war alles lesbar.
Politischer Krimi mit offenbar ideologischen Motiven
Und so wurde bei Lektüre des Gesamtwerks ein Verdacht immer deutlicher: Die Geschichte hinter den Kujau- Hitler-"Tagebüchern" ist möglicherweise weit mehr als die lustige Hochstapler-Komödie eines kleinen, cleveren Gauners und eines großen, nicht sehr cleveren Verlags. Das Bild, das Helmut Dietls Film "Schtonk" gezeichnet hat und das das gesellschaftliche Bewusstsein über diesen Skandal geprägt hat, könnte überholt sein. Stattdessen ist es ein politischer Krimi mit offenbar ideologischen Motiven. Neue Recherchen ergänzen diesen Befund.
- Teil 1: Zahlreiche bisher unbeachtete Quellen gefunden
- Teil 2: Lektüre ist eine Zumutung
- Teil 3: "Stern"-Fälschung erzeugt geschöntes Hitler-Bild
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- Teil 12: Männer der Fälscher-Werkstatt vom "Dritten Reich" fasziniert