"Hitler-Tagebücher": Die Recherchen und Hintergründe

Stand: 23.02.2023 18:00 Uhr

von John Goetz

Die Lektüre der angeblichen "Tagebücher" ist ohne Frage eine Zumutung. Aber sie sind eine wichtige Quelle nicht nur der Pressegeschichte, sondern auch der Geschichte der Bundesrepublik und ihres Umgangs mit der Erinnerung an die Massenverbrechen des Nationalsozialismus. Die Bedeutung ihrer versuchten Veröffentlichung im "Stern" lässt sich ohne den Zugang zu diesen Zeitdokumenten nicht verstehen. Deshalb legen wir sie hier in voller Länge vor. Die mit dieser Veröffentlichung zugänglich gemachte, damals exklusiv für den "Stern" verfasste Kujau-Erfindung erlaubt einen unverstellten Blick auf die Motive, politischen Obsessionen und Ziele der Menschen (nicht nur Kujaus), die an ihr gearbeitet, ihre Herkunft vertuscht und sie verbreitet haben.

Auch wenn Kujau kein sonderlich begabter Autor ist, zeigt sein Werk eine beeindruckende Geschlossenheit. Er hat nicht nur Eckdaten abgeschrieben, beispielsweise aus der Domarus-Chronik, sondern eigene Plots entwickelt, die sich über das gesamte "Werk" ziehen: Geschichte als Wunscherfüllung. Kujaus Schaffen ist ideologisch und von anhaltender Faszination für den fiktiven Tagebuchschreiber und dessen weltgeschichtlicher Bedeutung. Der so entstandene Text zeugt vom Wunsch, das historische Vorbild seines tagebuchschreibenden Alter Ego vor dem Hohn der Nachwelt und der Verachtung für seine Verbrechen zu bewahren. Es ist ein Wunsch, mit dem Kujau Anfang der 1980er-Jahre nicht alleine da stand.

Ex-"Stern"-Chefredakteur schreibt Erinnerungen nieder

Einige Wochen nach der Veröffentlichung der "Hitler-Tagebücher" und dem durch sie ausgelösten Skandal hat einer der damaligen "Stern"-Chefredakteure, Felix Schmidt, seine Erinnerungen an die Ereignisse niedergeschrieben. Sein eigenes Tagebuch ist ein faszinierender Insider-Bericht über die Atmosphäre in der Redaktion in den Monaten, Wochen und Tagen vor und nach der Veröffentlichung. Schmidts Aufzeichnungen sind eine der wichtigsten Darstellungen des Skandals und seiner Vorgeschichte. Aber da Schmidt seine Aufzeichnungen erst mit langem zeitlichem Abstand und einer Schonfrist von 30 Jahren veröffentlicht hat, sind sie nicht in die bekannten Darstellungen der Affäre eingegangen.

Plan: 30 Ausgaben in sieben Monaten über Hitler

Die Chefredaktion des "Stern" hatte den ambitionierten Plan, die Sensations-"Tagebücher" in 30 (!) Ausgaben des Magazins über einen Zeitraum von sieben Monaten wie einen spannenden Fortsetzungsroman zu präsentieren. Die Rechte an der Publikation und medialen Verwertung der "Tagebücher" hatte Gruner + Jahr meistbietend an Zeitschriften und Zeitungen in aller Welt verkauft. Es war ein gewaltiges internationales Projekt: Hitler sells. Entsprechend lautstark wurde das Spektakel der Veröffentlichung inszeniert. "Die Geschichte des Dritten Reiches wird in großen Teilen neu geschrieben werden müssen", verkündete der "Stern". Ein "Stern"-Redakteur behauptete in einer Talkshow etwas vorschnell, dass die Zeitschrift ihre Quellen sorgfältiger prüfe als viele Historiker.

Wirbel um einen berühmt-berüchtigten Satz

Als einer der Chefredakteure war Felix Schmidt für die Endredaktion der "Stern"-Ausgabe verantwortlich, in der die erste Folge der angeblichen "Hitler-Tagebücher" erschien. Er konnte nicht wissen, dass es gleichzeitig auch die vorletzte Folge sein würde. Schmidt hat den "Tagebuch"-Auszug und den begleitenden Text seiner Redaktionskollegen sorgfältig gelesen. Einen später berühmt-berüchtigt gewordenen Satz wollte er zunächst nicht stehen lassen. Schmidt schreibt 2013 in "Die Zeit":

"Den Text für die erste Folge (…) lese ich vier oder fünf Mal. Den Satz, dass 'die Biografie des Diktators und die Geschichte des Dritten Reiches in großen Teilen neu geschrieben werden muß', will ich ändern zu 'in Teilen umgeschrieben werden muß'. Der Chef vom Dienst und der Serien-Chef raten ab. Schließlich habe Hitler, folgt man den 'Tagebüchern', das Ausmaß der Judenvernichtung nicht gekannt. Ich gebe nach." Ex-"Stern"-Chefredakteur Felix Schmidt

Das Argument, Hitler habe, "folgt man den 'Tagebüchern', das Ausmaß der Judenvernichtung nicht gekannt", ist atemberaubend. Aber genau diese Schlussfolgerung legen die "Tagebücher" nah, die der "Stern" so lautstark veröffentlichen wollte. Jeder Historiker, der sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus und dem Völkermord an den europäischen Juden beschäftigt hat, hätte angesichts dieser These misstrauisch werden müssen.

Weitere Informationen
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Eigentümlichkeit: "Tagebücher" irritieren mit Unerwartetem

Vergleicht man die "Hitler-Tagebücher" mit anderen berühmten Fälschungen der jüngeren Geschichte, fällt eine Eigentümlichkeit auf. Meistens stimmen gelungene Fälschungen mit den vertrauten historischen Fakten überein. Sie sollen die Geschichte nicht "neu schreiben", im Gegenteil, sie fügen sich in die anerkannte Geschichtsschreibung ein und gewinnen so an Glaubwürdigkeit. Um es auf eine einfache Formel zu bringen: Wenn man ein Werk aus Picassos blauer Periode fälschen will, malt man kein orangenes Gemälde.

Doch genau das tut Kujau in seinen "Hitler-Tagebüchern". Er liefert entschieden etwas anderes, als Historiker von Tagebuch-Aufzeichnungen aus dem Führerbunker erwarten würden. Er bestätigt unsere Vorstellungen von Hitler nicht, sondern irritiert sie gezielt. Mit dieser eigentlich kaum zu übersehenden Irritation geht der Fälscher, der sein Produkt als authentisch verkaufen will, ein Risiko ein. Er verzichtet darauf, seine Fälschung durch die sorgsam beachtete Übereinstimmung mit der etablierten Geschichtsschreibung abzusichern und ihr so Glaubwürdigkeit zu verschaffen. Er macht das Gegenteil. Das ist ungewöhnlich.

Skandal: Hitler angeblich bemüht um Heimat für Juden

Aber auch für das Genre von Fälschungen, die mit der Fiktion historischer Dokumente der Geschichtsschreibung entgegenarbeiten und die Bewertung konkreter Personen, Gruppen oder Handlungen manipulieren wollen, gibt es Vorbilder. Eines der prominentesten ist die antisemitische Hetzschrift "Die Protokolle der Weisen von Zion". Sie hat im 20. Jahrhundert eine fatale Wirkung entfaltet und immer wieder antisemitischen Hass mit pseudowissenschaftlicher Legitimation munitioniert.

Und hier liegt der eigentliche Skandal der "Hitler-Tagebücher": Sie zeigen einen Adolf Hitler, der sich ständig um eine Heimat für das europäische Judentum bemüht, einen unschuldigen Mann, der nichts vom Holocaust weiß. Der Kujau-Hitler hat zwar Aversionen gegen "die Juden", er will sie aus Deutschland entfernen, aber er will sie nicht in einem planmäßigen Völkermord systematisch ausrotten. Das ist der entscheidende Unterschied zwischen dem von Kujau gebotenen Fake-Hitler und dem gut erforschten, realen Eliminierungs-Antisemiten Hitler.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Reschke Fernsehen | 23.02.2023 | 23:35 Uhr

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