"Hitler-Tagebücher": Die Recherchen und Hintergründe

Stand: 23.02.2023 18:00 Uhr

von John Goetz

Die vom "Stern" publizierte Fälschung arbeitet unverkennbar an einem geschönten Hitler-Bild. Das macht ihre Lektüre so schockierend: Es handelt sich um den Versuch einer aktiven Verfälschung der Geschichte des Holocaust und der Verharmlosung der Rolle Hitlers bei der Vernichtung der europäischen Juden.

Einige Passagen aus den "Tagebüchern" können hier illustrieren, wie der Fälscher Kujau mit Unterstützung des "Stern" versuchen wollte, die "Biografie des Diktators und die Geschichte des Dritten Reiches in großen Teilen neu" zu schreiben. Ich zitiere aus den "Hitler-Tagebüchern", deren Original-Manuskript im Hamburger Tresor von Gruner + Jahr liegt (Einzelne Rechtschreibfehler stammen aus dem Original):

  • Geheimbesprechung wegen der Juden im bes. polnischen Raum. Ich bin für einen Arbeitseinsatz der Juden, aber auf verstreuten Einsatzorten, nicht zu massiert. (6.1.1940)

  • Wieder Besprechung mit Führern der SS wegen der Judenprobleme im Osten. Ich beauftrage den Reichsführer SS mit der Ausarbeitung von Plänen, wie wir dieses Problem regeln können. Man sollte ein Gebiet finden, wo die Ostjuden leben und arbeiten können, ohne anderen Völkern Schaden zu bringen. Ich gebe nochmals vor versammelten Generälen meinen endgültigen Entschluß bekannt, die Westoffensive am 17. dieses Monats zu beginnen. Gebe den versammelten Parteiführern bekannt, das für das Judenproblem der Reichsführer SS verantwortlich ist. (10.1.1940)

  • Göring übergiebt SS-Führer Heydrich die von ihm ausgearbeitete Denkschrift, wonach er die Aufgabe bekommt eine Lösung des Judenproblems zu finden.

  • Wir können es uns nicht mehr leisten, diese Leute zu verpflegen, da sie weder in der Wirtschaft noch an den Fronten etwas leisten. Heydrich soll die Juden zur schnellen Auswanderung bringen, oder soll ihnen einen Landstrich in den besetzten Gebieten suchen, wo sie sich selbst ernähren und verwalten können. Ich schlage wieder einen Teil von Ungarn vor. (31. Juli 1941)

  • Erwarte die Meldungen der Konferenz über die Judenfrage. Wir müssen unbedingt einen Platz im Osten finden, wo sich diese Juden selbst ernähren können. Ich habe von den Teilnehmern der Kroferenz [sic] eine schnelle Lösung verlangt. Es muss doch im Osten einen Flecken geben, wo man diese Juden unterbringen kann. Der Judenrat ruft die Juden auf, gegen uns zu kämpfen und im Reiche zu Sabotageakten, aber haben oder versorgen will sie keiner. (20.1.1942)

  • Dieser Himmler ist nicht imstande gegen die Partisanen etwas zu unternehmen. Nicht mal auf dem Balkan. Vielleicht können wir die Juden in Ungarn unterbringen.

  • (…) Die Ungarn wollen die Juden auch nicht, was nun! (26.1.1942)

  • Hake nochmals nach, wo nur die ganzen Juden hin sollen. Glaube, darum soll ich mich auch noch kümmern. (5.2.1942)

  • Was wird nur mit den Juden. Keiner will sie haben. Sie benötigen unserer Lebensmittel und sonstigen Einrichtungen, hetzen in der ganzen Welt aber gegen uns und rufen die Juden im Reich und in den von uns genommenen Gebieten zum Wiederstand und Kampf gegen uns auf. Sie haben uns den Krieg erklärt, wollen aber von uns ernährt und versorgt werden. Sapodiren [sic] unsere Wirtschaft, wollen aber von uns noch beschützt werden. So denken und handeln kann nur ein Jude. Ich muss unbedingt eine Lösung finden. Soll doch dieser Roosevelt sie aufnehmen oder dieser Churchill. Aber keiner denkt nur im Traum daran. (18.2.1942)

  • Die Ungarn haben wiedermal ihre Regierung umgebildet. Dieser Horthy sollte sich lieber etwas einfallen lassen wo die Juden hinkönnen. Er hat doch genügent Land was unbesiedelt ist. Aber er rührt sich nicht, oder hat Ausreden. (Nachtrag bis 12.3.1942)

  • Konnten uns über eine neue Aufgabe für Himmler nicht einigen. Bin auch der Meinung, er soll sich erst mal um die Banden auf dem Balkan, im Generalgouvernement und im Protektorat kümmern. Auch sind wir mit der Abschiebung der Juden noch nicht weiter gekommen. Er hat schon Aufgaben, kommt aber dort nicht weiter! (14.5.1942)

  • Möchte nur wissen, wie weit Himmler mit dem Judenproblem ist. (21.5.1942)

  • Wir kommen nicht weiter mit dem Judenproblem. Keiner will sie haben, selbst unbesiedeltes Gebiet stellt man uns für die Umsiedelung nicht zur Verfügung. Selbst die immer schreienden Feinde haben keine Lust die Juden aufzunehmen. Nun haben wir nicht nur die Juden aus dem Reiche aus dem Halse, sondern uns schickten auch unsere Verbündeten ihre Juden. Auch kommen noch die aus den besetzten Gebieten dazu. Für diese zu nichts zu gebrauchenden Juden brauchen wir Unterkünfte und Lebensmittel. Der Jude im Lager bekommt fast doppelt soviel an Verpflegung wie unser kämpfender Soldat an der Front. Ich denke mir, es muß doch eine Lösung geben, diese Juden bis Sommer des kommenden Jahres unterzubringen um sie dann im Osten als Arbeitskräfte einzusetzen. Sie stellen doch für uns ein großes Heer von Arbeitskräften dar, die wir gut im Osten gebrauchen können. Im Reich selbst, sind sie selbst in Lager eine große Gefahr für uns. Gebe Himmler Weisung, Wege zu suchen um die Juden loszuwerden oder diese bis kommendes Frühjahr sicher unterzubringen. Himmler hat doch den Apparat um mit den Verbündeten zu verhandeln oder in besetzten Gebieten einen geeigneten Platz zu finden. Ich kann mich in dieser schweren Zeit nicht noch mit dem Judenproblem befassen. (20.11.1942)

  • Sorge macht mir unser Judenproblem. Nach den mir vorliegenden neuesten Meldungen will sie keiner haben. Horthy hat wieder abgelehnt! Gebe Himmler nochmals Weisung sich in erster Linie um dieses Problem zu kümmern. (23.5.1943)

  • Nun greifen die Amerikaner schon unsere Hauptverbandsplätze mit Blitzbomben an. Diesen Handlangern des Judentums ist doch selbst das rote Kreuz kein Hinderungsgrund für Terrorangriffe. Nun sehe ich das ich mit den Juden viel zu human umgegangen bin. Hätte sie auf Schiffe setzen sollen und wenn sie keiner aufnimmt absaufen lassen sollen. (11.1.1945)

Wie konnten die "Stern"-Verantwortlichen das ernst nehmen?

Wie konnten die Verantwortlichen einer der wichtigsten liberalen Zeitschriften der Bundesrepublik diese Aufzeichnungen ernst nehmen? Wie konnten sie solche Sätze lesen, interessiert nicken und sich sagen "So muss es gewesen sein, Hitler hat nichts vom Holocaust gewusst"? Und wie konnten sie in unzähligen langen Konferenzen darüber beraten, ohne dass jemand sagte "Das klingt wie der Traum eines naiven Hitler-Verehrers, aber nicht wie ein glaubwürdiges Zeitdokument"? Vier Jahrzehnte nach dem Fälschungsskandal, nachdem der Fall bis zum Überdruss diskutiert, erforscht und dokumentiert worden ist und nachdem schon die 1983 im "Stern" veröffentlichten Passagen für Misstrauen hätten sorgen müssen, steht eine Frage wie ein großer, hässlicher Elefant im Raum: Weshalb ist niemandem aufgefallen, dass die falschen "Tagebücher" wie der Versuch einer Rehabilitierung Adolf Hitlers wirken?

Weitere Informationen
Hajo Funke, emeritierter Professor für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. © NDR

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Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Reschke Fernsehen | 23.02.2023 | 23:35 Uhr

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