Olympische Spiele 1972: Als Kiel zur Segel-Hauptstadt wurde
Zwei Tage nach Eröffnung der Olympischen Spiele in München am 26. August 1972 beginnen die Segelwettbewerbe in Kiel. Die Stadt profitiert enorm. Aber auch der Terror ist dort wenige Tage später zu spüren.
Deutschland ist 1972 bereits zum zweiten Mal nach 1936 Gastgeber des Sport-Großereignisses. Mit den Olympischen Spielen in München und Kiel will sich die Bundesrepublik der Welt als erfolgreiches demokratisches Land präsentieren. Die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus, die sich auch mit den Spielen 1936 in Berlin verbanden, sollen überschrieben werden durch die "heiteren Spiele" von München. Auch Kiel richtet die Segelwettbewerbe der Olympischen Spiele 1972 zum zweiten Mal aus. Als Segelstandort durchgesetzt hat sich die schleswig-holsteinische Landeshauptstadt im Wettbewerb gegen Travemünde.
Kiel-Schilksee macht sich startklar für Olympische Spiele
Doch nicht der Olympiahafen am Hindenburgufer soll - wie in den 1930er-Jahren - der Ort des Geschehens sein, sondern der Stadtteil Schilksee im Norden, direkt an der offenen Ostsee. Innerhalb von vier Jahren entsteht dort das Olympiazentrum direkt am Wasser, mit Platz für dienstliche Räume und Unterkünfte für die Sportler. Insgesamt wird der gesamte Schilkseer Hafen für die Großveranstaltung in seiner Größe verdoppelt. Fachleute entwickeln in Kiel eine neue Infrastruktur, um den erwarteten Menschenmassen standzuhalten - dazu gehört ein neuer Zentraler Omnibusbahnhof, ein ausgebauter Alter Markt und eine komplett neu angelegte Uferpromenade an der Kiellinie.
"Anbindung an die Welt": Kiel bekommt Anschluss an die A7
Auch die Verkehrswege werden ausgebaut. So profitiert die Landeshauptstadt von dem Großereignis auch mit einer Autobahnanbindung an die A7, einer neuen Hochbrücke über den Nord-Ostsee-Kanal und einer sanierten Bundesstraße 503. Nach Angaben der Stadt kostete die Verbesserung des Verkehrsnetzes rund 110 Millionen D-Mark, die der Bund trägt. Die rund 82 Millionen, die die Sportanlagen in Schilksee und Umgebung schlucken, trägt der Bund zur Hälfte. Die anderen Kosten teilen sich Land und Stadt. "Ein Geldsegen, den man nicht so schnell wieder haben kann", nannte das der damalige Oberbürgermeister Kiels, Günther Bantzer (SPD).
Sein damaliger Pressechef Werner Istel erinnert sich später: "Wir waren so eine Art Weltstadt am Rande - für eine kurze Zeit." Insgesamt beliefen sich die Ausgaben für das Event Istel zufolge auf rund 500 Millionen Mark. "Die Stadt hatte so glücklich verhandelt, dass sie am Ende nur fünf Prozent davon zahlen musste. Und die Anbindung an die Autobahn nach Hamburg - das war die Anbindung an die Welt!"
Willi Daume betrachtet Spiele als "Weltfriedensbewegung"
Aus heutiger Sicht wirken die finanziellen Dimensionen tatsächlich bescheiden - auch was die Gesamtkosten der Spiele angeht: Fielen für die letzten Olympischen Spiele in Tokio umgerechnet rund zwölf Milliarden Euro an, kostet das Event 1972 "lediglich" zwei Milliarden D-Mark. Doch schon damals gibt es Debatten über die Kosten. Über Sponsoring, Werbung und politische Interessen, die sich vor den Sport schieben würden. Aber die Zustimmung in der Bevölkerung ist insgesamt hoch. Auf die Frage nach dem Sinn und Zweck der Olympischen Spiele beruft sich der damalige Präsident des Nationalen Olympischen Komitees, Willi Daume, in einem NDR Interview auf die alte Idee: "Es ist eine Weltfriedensbewegung. Die Tatsache, dass jetzt in München 132 Nationen zusammenkommen, ein Drittel mehr als in der UNO sind, dass Vietnamesen gegen Amerikaner auf einem friedlichen Feld kämpfen, Araber gegen Israelis, Ost gegen West, Nord- gegen Südkorea, dass sie zusammen im olympischen Dorf wohnen" - all das habe die meiste Bedeutung.
Wer darf das Olympisches Feuer in Kiel entfachen?
Am 26. August 1972 ist es schließlich soweit: In München werden die Spiele offiziell eröffnet. Am 28. August starten die Segelwettbewerbe in Kiel. Der Malenter Sportinternatsschüler Uwe Brandenburg wird im Vorfeld vom Schleswig-Holsteinischen Landessportverband auserwählt, die legendäre Fackel zu tragen und das olympische Feuer im Hafen Kiel-Schilksee zu entfachen. Der Leichtathlet hat sich mit gutem Grund für diese ehrenvolle Aufgabe qualifiziert: Gleich in zwölf Disziplinen ist er in dem Jahr Landesmeister geworden - und seinerzeit damit der erfolgreichste Jugendliche im Sport.
Klönschnack mit Juan Carlos: "Ein unvergessliches Erlebnis"
Zwei Wochen vor dem Ereignis bekommt Brandenburg allerdings eine Mitteilung: Die Organisatoren wünschen sich einen Segler, der die Flamme entzündet und somit die Segelwettbewerbe an der Ostsee eröffnet. Die Wahl für den Schlussläufer fällt auf den 16-jährigen Segler Philipp Lubinus. So läuft der junge Spitzensportler Brandenburg statt der letzten die vorletzte Etappe. Er hat das Glück, einen Schnack mit dem Kapitän der spanischen Mannschaft zu halten - dem späteren König Juan Carlos. "Wir haben uns nett unterhalten, Bilder gemacht - ein Riesen-Erlebnis", erinnert sich Brandenburg Jahrzehnte später. Die Fackel, die er damals tragen durfte, hat er noch immer.
Spezialfackeln für den windigen Norden
Dass das olympische Feuer überhaupt an die windige Ostseeküste kommen kann, wird im Vorfeld akribisch geplant. Die Fackel muss von Sportlern von Olympia über München nach Kiel gebracht werden. Das sind stolze 5.500 Kilometer. Allein von Hamburg bis Kiel braucht das Komitee rund 95 Läufer. Bei Pinneberg übernehmen Schleswig-Holsteiner das Feuer und tragen es jeder einen Kilometer weit. Bönningstedt, Lentföhden, Bad Bramstedt, Bordesholm - immer in Richtung Norden. Doch es gibt ein Problem: Die Fackel droht immer wieder auszugehen. Der Hersteller findet eine Lösung und entwickelt Fackeln, die auch dem Ostseewind standhalten.
"Es war ein traumhaft schöner Tag"
Heinz Laprell, Teilnehmer der olympischen Segelwettbewerbe in Kiel, hat die Eröffnungsfeier in München miterlebt und gehört mit seinen 25 Jahren damals zu den jüngsten Teilnehmern der olympischen Regatten. "Es war ein traumhaft schöner Tag", schwärmt er im NDR Info Podcast "Deine Geschichte - unsere Geschichte". Auch wenn die Feier für die Teilnehmer neben Glamour auch Stress bedeutet habe: "Das ist eine lange Prozedur. Man wartet und wartet und hört von Weitem immer die Geräusche aus dem Olympiastadion. Die Musik, das Jubeln und so. Man kann es kaum noch erwarten, dass man sich endlich auch in Bewegung setzen kann." Gerne hätte er sich auch noch ein paar Wettbewerbe in München angesehen, doch die Sportler müssen schnell zu ihren eigenen Wettkämpfen nach Kiel.
Terror in München überschattet auch den Sport in Kiel
Am achten Tag der Wettkämpfe wir das Konzept der "heiteren Spiele" brutal zerrissen: "Seit heute morgen um 4 Uhr weiß man, dass die Olympische Idee abermals in den Strudel der Politik geraten ist, nur weitaus blutiger, dramatischer als das vor den Spielen im Fall Rhodesien der Fall war", berichtet Reporter Wolfgang Knauer am 5. September im NDR Mittagskurier. Arabische Terroristen sind in das israelische Mannschaftsquartier eingedrungen, haben dort einen Trainer erschossen und Geiseln genommen.
Heinz Laprell bekommt von dem Anschlag in München zunächst gar nichts mit. Die Segler in Kiel sind auf auf dem Wasser und tragen ihre Wettbewerbe aus. "Und wie wir dann zurückkamen in den Hafen, da merkte man schon, dass eine unglaublich bedrückende Stimmung herrschte. Wir haben das gar nicht verstanden. Alle standen da bedröppst an Land. Und dann hat man natürlich sofort die Informationen bekommen, dass es dieses schreckliche Attentat gab." Ob und wie es weitergeht, sie völlig offen gewesen.
Führt Attentat im Olympia-Dorf zum Ende der Spiele?
Sowohl in Kiel wie auch in München gehen die Spiele zunächst weiter - während sich zeitgleich die Informationen über das Attentat verdichten. Acht Mitglieder der palästinensischen Terrororganisation "Schwarzer September" haben zwei Mitglieder des israelischen Teams erschossen und neun weitere in Geiselhaft. Die Terroristen fordern die Freilassung von 232 Palästinensern aus israelischen Gefängnissen sowie die Freilassung der deutschen RAF-Terroristen Andreas Baader und Ulrike Meinhof. Für die Segler in Kiel sei schwer begreifbar gewesen, was da in München passiert, sagt Laprell. Mündlich sei man von Trainern und Betreuern informiert worden. "Fernsehen und solche Dinge haben ja damals keine solch große Rolle gespielt. Die Stimmung war irrsinnig gedrückt. Wir haben einfach gewartet wie die Entscheidung sein wird."
Befreiungsversuch der Geiseln endet im Desaster
In München scheint eine Befreiung der Geiseln indes unmöglich. Den Terroristen wird angeboten, sie mit den Geiseln nach Kairo fliegen zu lassen – ein Angebot, das seitens der Einsatzleitung allerdings nicht ernst gemeint ist. Vielmehr sollen die Terroristen aus dem Olympia-Dorf gelockt werden, um sie überwältigen zu können. Auf dem Flughafen Fürstenfeldbruck wird zum Schein eine Lufthansa-Maschine bereitgestellt. Doch dort endet der Tag, wie er begann: blutig. Die Aktion scheitert. Weitere Geiseln werden erschossen, auch ein Polizist. Fünf Terroristen sterben. 17 Tote sind die erschütternde Bilanz dieses 5. September.
"The games must go on"
Danach ist nichts mehr wie vorher. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) räumt den Wettkampf-Teilnehmern einen Vormittag zum Trauern ein, im Olympiastadion gibt es eine improvisierte Trauerfeier. In Kiel ist eigentlich keine Trauerfeier geplant. Doch am Morgen des 6. September kommen spontan Kieler Bürger und Segler zusammen, um der Toten in München zu gedenken. Danach gehen die Spiele auf Entscheidung des IOC weiter.
Segler Heinz Laprell sieht diese Entscheidung pragmatisch, Kritik am IOC übt er dafür nicht - dennoch: "Ich hätte auch mit dem Abbruch der Spiele gut leben können." Die Stimmung sei nach dem Attentat gedämpft und depressiv gewesen. "Man geht in der Früh nach dem Frühstück schon nicht so gern zum Schiff und macht das fertig. Die Freude war weg."
Probleme mit dem Boot - Wettkampferfolg bleibt aus
Für den geborenen Münchner Laprell, der lange Jahre in Kiel gelebt hat, halten die Spiele neben dem Attentat auch einen persönlichen Dämpfer parat. Mit 17 Jahren hatte er als jüngster Steuermann auf der Kieler Woche fahren dürfen, im Olympia-Jahr 1972 die Kieler Woche gewonnen. Die Erwartungen waren entsprechend hoch. Doch dann tauchen Probleme am Schiff auf, aufgrund der Wettkampfregeln muss er kurzfristig das Boot tauschen - der erhoffte Wettkampferfolg bleibt aus. Von der Atmosphäre in der Olympia-Stadt Kiel bekommt er im Übrigen nicht viel mit: "Für alle Sportler wird das gleich gelten, dass das ein ganz strammer Tagesablauf ist, wo man sein Training macht, ausreichend isst, ausreichend schläft. Großerlebnis in der Olympia-Stadt - das findet einfach nicht statt."
Kieler von Spielen begeistert
Der Stadt selbst beschert das Großereignis indes insgesamt einen Aufschwung. "Durch die Olympischen Segelwettbewerbe wurde aus der etwas verschlafenen Landesmetropole Kiel eine Sporthauptstadt", bewertet der einstige Fackelläufer Uwe Brandenburg die Entwicklung vor einigen Jahren rückblickend. Die Kieler Bürger sind von den Spielen vor der eigenen Haustür größtenteils begeistert. Und auch der damalige OB Bantzer lässt sich mit einem durchweg positiven Fazit zitieren: "Dass sich das gelohnt hat, das sage nicht nur ich, das sagen alle. Und ich würde es sofort wieder machen."
Hamburger wollen nicht: Olympische Spiele 2024 in Paris
2024 hätten die Olympischen Spiele wieder nach Deutschland kommen können. Einer der Favoriten als Austragungsort war Hamburg - wieder mit Kiel als Hafen für die Segelwettbewerbe. In einem Bürgerentscheid 2015 stimmten die Bewohner von Kiel knapp dafür, die Olympischen Spiele in den Norden zu holen - die Hamburger hingegen lehnten es ab. Gastgeber für die kommenden Spiele wurde Paris - die Segelsportler traten in Marseille gegeneinander an.
Ob sich Deutschland als Austragungsort für die Olympischen Spiele 2036 und 2040 bewerben wird, will der Deutsche Olympische Sportbund 2025 entscheiden. Dann käme Kiel wieder für die Segelwettkämpfe ins Spiel.