Zeitreise: Was in Kiel für Olympia 1972 verändert wurde
Ein Zuhause für Flüchtlinge nach Ende des Zweiten Weltkrieges: die Kasematten von Kiel-Friedrichsort. Die Olympischen Spiele sorgten dafür, dass die Einwohner der Kasematten eigene Wohnungen bekamen.
Es war eine Jahrhundert-Chance für Kiel, meinte der damalige Oberbürgermeister Günther Bantzer, und die dürfe man sich nicht entgehen lassen. Kiel hatte den Zuschlag für die Ausrichtung der Segelwettbewerbe der Olympischen Spiele 1972 bekommen. Nun soll die Stadt einen Quantensprung in ihrer Entwicklung machen. Kiel bekam einen neuen zentralen Omnibusbahnhof, einen Erweiterungsbau der Oper, öffentliche Plätze wurden umgestaltet, eine neue Brücke über den Nord-Ostsee-Kanal gebaut. Es musste viel gemacht werden, da Kiel eine der am stärksten zerstörten Städte des Zweiten Weltkriegs war. Nun endlich sollten auch die letzten Spuren der Vergangenheit getilgt werden.
Ein Zuhause für Flüchtlinge
Eine dieser Spuren waren die vielen Flüchtlingslager, die es auch Ende der 1960er-Jahre noch in der Landeshauptstadt gab - viele im Kieler Stadtteil Friedrichsort. Dort hatten viele Flüchtlinge eine erste Unterkunft bekommen. Später hatten sich einige ein Haus gebaut, andere schafften sich in den Flüchtlingssiedlungen ein Zuhause. Es gab aber auch Hunderte Menschen, die dort eine Zuflucht gefunden hatten. Sie waren zuvor obdachlos, manche durch eine unglückliche Entscheidung - andere, weil sie Alkoholiker waren. Betroffen waren auch ihre Familien. Kinder wuchsen in den Lagern zum Teil unter menschenunwürdigen Bedingungen auf.
Eine von diesen Obdachlosenasylen war in den Kasematten in Friedrichsort - ein alter dänischer Festungsbau aus dem 17. Jahrhundert. Nach 1945 war die Festung zunächst eine erste Unterkunft für Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten. Nach ihnen kamen die Obdachlosen. 200 Menschen lebten hinter einen Meter dicken Steinwänden unter erschreckenden hygienischen Verhältnissen. Mütter hatten Angst, dass Ratten ihre Kinder annagten. Im Hof stapelte sich der Müll und die Toiletten waren eine Krankheitsquelle. In kleinen Räumen lebten oft mehr als zehn Menschen zusammen. Mädchen und Jungen spielten in 200 Meter langen fensterlosen Gängen, in denen früher die Soldaten auf dem Weg zum Einsatz marschierten.
Postbote in Flüchtlingslagern
Reinhold Schlör hat von Mitte der 1950er-Jahre an in Friedrichsort und Kiel die Post ausgetragen. Allein, erzählt er dem NDR, haben sich die Postboten nicht in die Katakomben der Festung gewagt. In der Zeit, als die Postler noch die Gelder des Sozialamtes ausgezahlt haben, befürchteten viele von ihnen, in den Kasematte bestohlen zu werden und gingen nur zu zweit in die Festung.
Aber, so erzählt Schlör weiter, in vielen anderen Lagern waren die Menschen sehr freundlich und nett. Einmal hat er auf seinem Gang durch ein Flüchtlingslager seine Tasche mit Geld verloren, mit mehr als 1.000 D-Mark. Das waren drei Monatslöhne von ihm. Aber einer der Einwohner fand die Tasche und brachte sie ihm zurück. "Arm, aber ehrlich", sagt er und erzählt zugleich, dass Postboten nirgendwo so viel Trinkgeld bekamen wie in den Flüchtlingslagern. Viele hatten dreimal so viel Trinkgeld erhalten wie an Lohn von der Post.
Schlussstrich unter der Vergangenheit
Aber die Stadt wollte einen Schlussstrich ziehen, zudem sollte in direkter Nachbarschaft der Lager das olympische Jugenddorf gebaut werden. Den Jugendlichen aus aller Welt wollte man den Anblick des Elends nicht zumuten. Und so baute zum Beispiel die "Neue Heimat" in Suchsdorf an die 1.000 Wohnungen. In sie kamen die Bewohner der Barackenlager. Die Baracken selbst wurden sofort nach dem Auszug der Menschen abgerissen oder verbrannt. Nichts sollte mehr an sie erinnern. Auch die Obdachlosenfamilien aus der Friedrichsorter Festung bekamen ein neues Zuhause.
Inzwischen erinnert nichts mehr an ihr Schicksal und in ihren alten Wohnräumen. In den Kasematten direkt an der Kieler Förde haben sich viele kleine Betriebe angesiedelt.