Stets im Wandel: Die Hamburgische Bürgerschaft
Die Geschichte der Hamburgischen Bürgerschaft reicht bis ins 15. Jahrhundert zurück. Die Revolution von 1848/49 und zwei Weltkriege wirkten sich auch auf das Parlament aus. Seit 1997 gelten die Abgeordneten als Teilzeit-Politiker - und 2013 wurde das Wahlalter auf 16 Jahre gesenkt.
Die Anfänge der Hamburgischen Bürgerschaft stammen aus einer Zeit, in der der spätere Amerika-Entdecker Christoph Kolumbus noch nicht einmal geboren war. 1410 gesteht der Hamburger Rat - wie sich die Regierenden damals nannten - der Bürgerschaft erstmals schriftlich gewisse Kontroll- und Mitbestimmungsrechte zu. Es handelt sich zunächst nicht um ein parlamentarisches Gremium, sondern um die Gesamtheit der Bürger. Zur "Bürgerschaft" zählen damals aber nur alle Männer, die Inhaber des Bürgerrechts sind. Vor allem die Grundbesitzer der Hansestadt - die sogenannten Erbgesessenen - haben das Sagen: Über Jahrhunderte hinweg spielen sie die bedeutendste Rolle in der Bürgerschaft, ihre Versammlungen werden als "Erbgesessene Bürgerschaft" bezeichnet.
Nur die Grundbesitzer dürfen mitreden
Die Bürgerschaft etabliert sich schnell. Im Zuge der Reformation wird 1529 in der Verfassung festgelegt, dass sie in allen Fragen des Stadtregimentes mitzuentscheiden hat. 1712 wird der Grundsatz der gemeinsamen Regierung durch Rat und "Erbgesessene Bürgerschaft" festgeschrieben: Politisches Mitspracherecht haben nur die in der Stadt ansässigen Grundeigentümer, die über ein gewisses Vermögen verfügten.
Die erste Wahl kommt 1859
Die Vormachtstellung der Grundbesitzer wird Mitte des 19. Jahrhunderts aufgehoben: Im Zuge der Deutschen Revolution von 1848/49 werden auch in Hamburg die Rufe nach politischen Änderungen lauter. Im Herbst 1848 wählen die Hamburger eine verfassungsgebende Versammlung. Über zehn Jahre zieht sich der Streit über die neue Verfassung hin. Schließlich wird 1859 die Bürgerschaft erstmals "in allgemeinen Wahlen" gewählt. Das Prinzip der Erbgesessenheit gehört der Vergangenheit an. Die "Erbgesessene Bürgerschaft“ wählt bei ihrer letzten Sitzung am 24. November 1859 ihre Vertreter für das neue Parlament. Wichtigste Neuerung: Die Bürgerschaft wählt ab 1860 den Senat, wie die Regierung seitdem heißt.
Elite gibt Macht scheibchenweise ab
Aber das neue Wahlrecht kommt nicht einmal zehn Prozent der Bevölkerung zugute. Denn die Teilnahme an den Wahlen ist weiterhin an mehrere Voraussetzungen geknüpft: Zum einen dürfen nur Männer ab 25 Jahre wählen, zum anderen müssen sie das Hamburger Bürgerrecht besitzen und Steuern abführen. Die herrschende Elite gibt ihre Macht nur scheibchenweise ab: Lediglich 84 von 192 Abgeordnete werden vom Wahlvolk ausgewählt; über 108 Sitze können die "Erbgesessenen" und die "Notabeln" bestimmen. Sogenannte Notabeln sind Bürger mit einem Ehrenamt wie etwa Handelsrichter.
"Großer Brand" zerstört 1842 auch Hamburgs Rathaus
Als die erste gewählte Bürgerschaft loslegt, hat sie kein angemessenes Zuhause. Denn das Rathaus ist bei dem verheerenden Brand von 1842 zerstört worden. Und so bezieht die Bürgerschaft zunächst Räumlichkeiten in der nahe gelegenen Patriotischen Gesellschaft von 1765. Erst 1897 wird das neugebaute Rathaus eingeweiht. Dort sind seitdem der Senat und die Bürgerschaft beheimatet - fein säuberlich getrennt in jeweils einem Flügel des Gebäudes.
Arme Hamburger dürfen nicht wählen
Die Bürgerschaft tritt schnell als Anwalt des "kleinen Mannes" auf. So beschließt sie, die in der Bevölkerung ungeliebte Torsperre zum 31. Dezember 1860 aufzuheben. Fortan müssen die Hamburger am späten Abend oder in der Nacht keine Gebühr mehr für das Öffnen eines Stadttors zahlen. Knapp zwanzig Jahre später wird die Hamburger Verfassung erneut geändert: Die Zahl der Abgeordneten wird von 192 auf 160 gesenkt. Zudem wird nun die Hälfte der Sitze durch Wahlen bestimmt. Aber die ärmeren Schichten der Bevölkerungen bleiben weiter ausgeschlossen: 1879 besitzen von den etwa 450.000 Einwohnern Hamburgs nur 22.000 das Wahlrecht zur Bürgerschaft.
Angst vor der Arbeiterklasse
Die Eliten fürchten den Einfluss der Arbeiterschaft. Die Bürgerschaftswahl des Jahres 1904 beschert der SPD immerhin 13 Sitze. Als Reaktion will der Hamburger Senat das Wahlrecht zugunsten der Wohlhabenden ändern. Das Ziel des Senats ist, zu verhindern, "dass die politische Macht immer mehr und mehr auf die nichtbesitzenden Klassen übergeht". Diesen "Wahlrechtsraub" will die SPD nicht hinnehmen und ruft zum ersten politischen Generalstreik in Deutschland auf. Am Nachmittag des 17. Januar 1906 legen rund 80.000 Arbeiter in den Fabriken, auf den Werften und Baustellen die Arbeit nieder und ziehen zu Versammlungsorten überall in der Stadt. Es kommt zu blutigen Unruhen. Die Proteste sind vergebens. Ende Januar 1906 beschließt die Bürgerschaft das neue Gesetz, das die politische Ungleichheit verschärft und dafür sorgt, dass das Großbürgertum noch einige Jahre unter sich bleiben kann - bis zum Ende des Ersten Weltkriegs.
Erste demokratischen Wahlen 1919 - mit Frauen
Erst der verlorene Erste Weltkrieg und die Novemberrevolution von 1918 bringen es mit sich, dass Hamburg sein ungerechtes Wahlsystem aufgibt. Fortan ist keine Bevölkerungsschicht mehr ausgeschlossen. Im März 1919 findet die erste "echte" Bürgerschaftswahl statt - auch die Frauen dürfen nun wählen. Die SPD kann sich mit 50,5 Prozent der Stimmen als großer Wahlsieger feiern. Die erste demokratische gewählte Bürgerschaft einigt sich auf eine neue Verfassung, die 1921 in Kraft tritt. Das Parlament ist seitdem alleiniger Gesetzgeber, dem unter anderem die Wahl des Ersten Bürgermeisters und der Senatoren zusteht.
Nationalsozialisten schalten die Bürgerschaft aus
Dann bahnt sich das Ende der Weimarer Republik an. In Hamburg steigt die NSDAP bei der Wahl im April 1932 zur stärksten Fraktion auf, kann aber nicht den Senat stellen. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten Ende Januar 1933 in Berlin gehen die Nazis auch in Hamburg rigoros gegen die bestehenden demokratischen Institutionen vor. Am 5. März besetzen SA und SS das Rathaus. Kommunistische Abgeordnete werden verhaftet. Die Bürgerschaft wird schrittweise entmachtet, die letzten Sitzungen finden im Mai und Juni 1933 statt. Am 14. Oktober 1933 löst der Hamburger Reichsstatthalter Karl Kaufmann die Bürgerschaft auf. Alle Parteien sind inzwischen verboten - nur die NSDAP gibt es weiterhin.
Im Rathaus erinnert eine Gedenktafel an die Bürgerschaftsabgeordneten, die während der Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten ums Leben gekommen sind.
Briten ernennen 1946 erste Nachkriegs-Bürgerschaft
Nach der Kapitulation Hamburgs am 3. Mai 1945 und dem Kriegsende gehört die Hansestadt zur britischen Besatzungszone. Die britische Militärregierung setzt mit dem parteilosen Rudolf Petersen und dem SPD-Politiker Adolph Schönfelder zwei Bürgermeister ein und ernennt ein Dreivierteljahr später die erste Nachkriegs-Bürgerschaft mit 81 Mitgliedern. Als Teil der Demokratisierung sollte das Parlament nach Willen der Besatzer einen möglichst breiten Querschnitt der "einfachen" Bevölkerung spiegeln. Am 27. Februar 1946 tritt die neue Bürgerschaft zu ihrer konstituierenden Sitzung zusammen. Im Fokus steht damals die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Heizmaterialien - und die Erarbeitung einer neuen Verfassung.
Schon im Oktober 1946 wählen die Hamburger wieder
Die Militärregierung erlässt noch im gleichen Jahr ein Wahlgesetz mit relativem Mehrheitswahlrecht nach britischem Vorbild. Fast auf den Tag genau 13 Jahre nach der Auflösung der Bürgerschaft durch die Nationalsozialisten findet am 13. Oktober 1946 die erste Hamburg-Wahl der Nachkriegszeit statt. Hamburg steht noch unter der Verwaltung des britischen Militärs; die Bundesrepublik Deutschland ist noch nicht gegründet. Die SPD erringt die absolute Mehrheit. Die Sozialdemokraten laden aber die FDP und die KPD ein, sich an der Regierung zu beteiligen. Hamburgs erster Bürgermeister nach dem Krieg heißt Max Brauer.
Seit 1982 sind die Grünen dabei
Die SPD sichert sich 1949 erneut die absolute Mehrheit, verliert aber 1953 knapp gegen den "Hamburg-Block" - einen Zusammenschluss aus CDU, FDP und Deutsche Partei. Von 1957 bis 1978 schaffen es stets nur drei Parteien in die Bürgerschaft: SPD, CDU und FDP. Bei der Wahl 1978 rutscht die FDP erstmals unter die Fünf-Prozent-Hürde. 1982 stoßen die Grünen hinzu.
Goldene Jahre für die CDU
Nach der Wahl 2001 muss die SPD erstmals seit 1953 wieder in die Opposition, obwohl sie weiter die größte Fraktion stellt. Die CDU stellt nun mit Ole von Beust den Ersten Bürgermeister. Nachdem die Koalition mit der "Schill-Partei" zerbricht, können die Christdemokraten bei der erforderlichen Neuwahl 2004 erstmals in der Hansestadt die absolute Mehrheit der Bürgerschaftssitze gewinnen.
Nach der Wahl 2008 kommt es in Hamburg zur bundesweit ersten schwarz-grünen Regierung auf Landesebene; die Linken überspringen zudem erstmals die Fünf-Prozent-Hürde.
Scholz bringt die SPD zurück an die Macht
2011 gelingt es der SPD mit ihrem Spitzenkandidaten Olaf Scholz die absolute Mehrheit zurückzuerobern. Seit der Bürgerschaftswahl 2015 gibt es erstmals in der Nachkriegszeit sechs Fraktionen. Neu dabei ist die AfD. Erster Bürgermeister ist seit März 2018 der Sozialdemokrat Peter Tschentscher - in einer rot-grünen Koalition. Im Juni 2020 wird er im Amt bestätigt.
Zehn Stimmen zum Verteilen
Inzwischen gilt ein neues Wahlrecht in Hamburg, das zum Teil auf ein erfolgreiches Volksbegehren aus dem Jahr 2009 beruht. Neu ist seitdem, dass die Wähler bei den Landeslisten jetzt fünf Stimmen statt bisher eine Stimme haben. Diese können sie frei an die von den Parteien aufgestellten Personen vergeben - oder an die Parteiliste im Ganzen. Auch auf den Wahlkreislisten können die fünf Stimmen frei verteilt werden - auf einen oder mehrere Kandidaten. Nach der Zahl der erhaltenen Stimmen richtet sich, wer in die Bürgerschaft einzieht.
Wahlalter auf 16 Jahre gesenkt
Aktuell besteht die Bürgerschaft aus 123 Abgeordneten, von denen 71 über die Wahlkreislisten und die restlichen 52 über die Landeslisten bestimmt werden. In den 17 Wahlkreisen werden je nach Größe drei, vier oder fünf Sitze vergeben. Am 13. Februar 2013 hat die Bürgerschaft mit einer Zweidrittelmehrheit beschlossen, das Wahlalter auf 16 Jahre zu senken. Fortan können 16-Jährige an Bürgerschafts- und Bezirkswahlen teilnehmen. Und seit 2015 wird die Bürgerschaft nicht mehr für vier Jahre gewählt, sondern für fünf.
Teilzeit statt Ehrenamt
Die Hamburger Bürgerschaftsabgeordneten sind heute Teilzeit-Politiker. Das war lange Zeit anders, denn die politische Arbeit galt als Ehrenamt. Erst 1997 verliert die Bürgerschaft ihren Status als reines Feierabend-Parlament - und wird zum Teilzeit-Parlament. Die Abgeordneten erhalten monatliche Diäten und können ihren angestammten Beruf wie Lehrer oder Rechtsanwalt - ebenfalls in Teilzeit - weiter ausüben.
Die Bürgerschaft richtet sich darauf aus: Anders als in den meisten anderen Landesparlamenten gibt es keine festen Termine am Vormittag. Die Sitzungen der Bürgerschaft beginnen erst am Nachmittag. Dennoch ist es für viele Abgeordnete eine Herausforderung, Beruf, Mandat und Familie unter einen Hut zu bekommen.