Willy Brandt: Berlins Krisen-Manager
Von 1957 bis 1966 ist Willy Brandt Regierender Bürgermeister von Berlin. Das Chruschtschow-Ultimatum, der Mauerbau, der Kennedy-Besuch - Krisen und glanzvolle Momente prägen diese Zeit.
Als Korrespondent skandinavischer Zeitungen kehrt Willy Brandt 1945 aus dem Exil nach Deutschland zurück. Zunächst ist noch offen, wo Brandt seine Zukunft sieht: in Norwegen, wo er fast 13 Jahre lang gelebt hat, oder in Deutschland. Während seiner Reisen zu den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen knüpft der Emigrant alte und neue Kontakte zur SPD.
Als norwegischer Presseattaché nach Berlin
Doch ein Angebot, die Lübecker SPD zu führen, lehnt er ab. Stattdessen entsendet die norwegische Regierung Brandt 1946 als Presseattaché der norwegischen Militärmission nach Berlin. Eher zufällig gelangt er so mit seiner zweiten Frau Rut an seine künftige Wirkungsstätte.
"Ein Herz und eine Seele": Brandt und Reuter
Bald wird klar, dass Brandt den Wiederaufbau eines deutschen Staates mitgestalten will. Doch dafür muss der norwegische Staatsbürger, den die Nationalsozialisten 1938 ausgebürgert hatten, zunächst einmal wieder die deutsche Staatsangehörigkeit annehmen. Dies geschieht am 1. Juli 1948. Im gleichen Jahr geht er als Vertreter des SPD-Parteivorstands nach Berlin.
In Ernst Reuter findet er schnell einen Freund und Unterstützer. Sie seien "ein Herz und eine Seele" gewesen, schreibt Brandt in seinen Erinnerungen und nennt das Zusammentreffen eine "lebensentscheidende Begegnung".
Im Kampf für die Anbindung West-Berlins an den Westen
An Reuters Seite kämpft Brandt für die Anbindung West-Berlins an den Westen - nicht ohne Gegenwind aus der eigenen Partei. Reuter ist von 1947 bis zu seinem Tod 1953 Oberbürgermeister von Berlin. Einen internationalen Namen als Kämpfer für die Freiheit Berlins macht sich der SPD-Politiker während der Blockade 1948/49. Die von den Sowjets vollzogene Spaltung der Stadt führt dazu, dass Brandt sich zu einem Befürworter der Westanbindung entwickelt. In der Berliner SPD muss der junge Abgeordnete einige innerparteiliche Niederlagen hinnehmen, bevor er 1955 zum Präsidenten des Berliner Abgeordnetenhauses gewählt wird.
Politik verdrängt Privatleben
Ab 1949 pendelt Brandt zwischen Berlin und Bonn, wo er als Berliner Abgeordneter für die SPD im Deutschen Bundestag sitzt. Nach der Anerkennung durch den Berliner Polizeipräsidenten trägt er inzwischen offiziell den Namen Brandt, den er sich im skandinavischen Exil zugelegt hatte. Seine Frau und die beiden Söhne Peter und Lars - 1948 und 1951 geboren - sieht Brandt immer weniger. Wohl aber geben Rut und er bei öffentlichen Anlässen ein gutes Bild ab. Die Medien lichten das hübsche, moderne Paar oft und gern ab.
Vom Bändiger der Massen zum Berliner Bürgermeister
1956 bekommt Brandt die Möglichkeit, seine Führungsqualitäten unter Beweis zu stellen. Nach der Niederschlagung des Aufstands in Ungarn kommt es im November - ähnlich wie nach dem Aufstand in der DDR 1953 - zu Demonstrationen in Berlin. Als eine Großkundgebung vor dem Schöneberger Rathaus zu eskalieren droht, stellt Brandt seine außerordentlichen rhetorischen Fähigkeiten unter Beweis. Mit einer spontanen Rede schafft er es, die Massen zunächst zu beruhigen. Als doch ein Teil der Demonstranten bis zum Brandenburger Tor zieht, fährt Brandt mit Rut hinterher. Ihm gelingt es, die Menge von der Sektorengrenze wegzuführen und Zusammenstöße mit den Sowjets zu vermeiden. Als ein knappes Jahr später der amtierende Bürgermeister Otto Suhr stirbt, wird Brandt zu seinem Nachfolger gewählt.
Chruschtschow-Ultimatum setzt Westen unter Druck
Im November 1958 spitzt sich die Situation in Berlin erneut zu. Grund dafür ist ein Ultimatum des sowjetischen Regierungschefs Nikita Chruschtschow. In einer Note an die Westmächte vom 27. November fordert er, dass Westberlin innerhalb von sechs Monaten eine "entmilitarisierte Freie Stadt" werden solle. Doch Chruschtschow hat die Bedeutung der geteilten Stadt unterschätzt. Die Alliierten gehen nicht auf seine Forderungen ein und lehnen eine isolierte Lösung für Berlin strikt ab. Mit dieser Rückendeckung kann auch der Regierende Bürgermeister den Sowjets energisch entgegentreten.
Werbefeldzug um die Welt
Für Brandt ist die Krise die Gelegenheit, sich innen- und außenpolitisch als Kämpfer für Freiheit und Demokratie zu profilieren. Die Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus am 7. Dezember 1958 kommen einer Abstimmung der Bevölkerung gegen das Ultimatum der Sowjetunion gleich. Die SPD kommt auf 52,6 Prozent der Stimmen - das bedeutet die absolute Mehrheit. Bereits eine Woche später tritt Brandt in Paris vor den Alliierten als Fürsprecher Berlins auf. Diese Rolle führt ihn ab Januar 1959 als Sonderbotschafter Deutschlands um die halbe Welt.
Weltweit wirbt Brandt für Verständnis und Verbündete. Mit Erfolg: In den USA empfangen Präsident Dwight Eisenhower, UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld, US-Senatoren und Kongressabgeordnete den gebürtigen Lübecker. Das US-Magazin "Time" widmet ihm im Mai 1959 eine Titelseite. Auch in der Heimat verfolgt die Presse Brandts Reise, die ihn unter anderem nach Kanada, Japan, Thailand und Indien führt.
Der erste "Kanzlerkandidat"
Bei der Bundestagswahl 1957 erleidet die SPD eine schwere Niederlage. Dies erhöht den Druck, die Partei inhaltlich neu aufzustellen. Junge Sozialdemokraten um Willy Brandt ebnen der SPD mit dem Godesberger Programm von 1959 den Weg von der ehemaligen Arbeiter- zur Volkspartei. Bei der Bundestagswahl 1961 schickt die SPD Willy Brandt ins Rennen. Der 47-Jährige ist populär, im Inland wie im Ausland. Inspiriert von den USA, entwerfen seine Berater eine Wahlkampf-Strategie nach diesem Vorbild. Brandt soll sich als deutscher Kennedy präsentierten. Brandt-Berater Klaus Schütz kreiert den Begriff "Kanzlerkandidat". Der Hoffnungsträger stürzt sich in den Wahlkampf und reist - oft aus der offenen Limousine den Menschen zuwinkend - unermüdlich durch die Republik.
Bewährungsprobe Mauerbau
Am 13. August wird diese Tour jäh unterbrochen. Im Zug nach Kiel erhält Brandt um fünf Uhr morgens die Nachricht von der Schließung der Sektorengrenzen zwischen Ost- und Westberlin. Sofort sagt er alle Termine ab und fährt nach Berlin. Hier steht er vor seiner größten Bewährungsprobe. Als Betonpfähle, spanische Reiter und Stacheldraht den Weg von West nach Ost und umgekehrt versperren, verleiht Brandt der Wut und Ohnmacht der Menschen Ausdruck. Vehement verurteilt er das Geschehen. Doch Unterstützung bleibt zunächst aus. Weder Bundeskanzler Adenauer noch die drei Westmächte reagieren. Erst zögerlich und mit mehrtägiger Verspätung protestieren die vermeintlichen Beschützer Berlins.
Am 16. August kommt es auf Brandts Aufruf hin zu einer Massenkundgebung vor dem Schöneberger Rathaus. Plakate mit der Aufschrift "Hau auf die Pauke, Willy" oder "Vom Westen verraten?" verdeutlichen die gereizte Stimmungslage. Brandt fordert in seiner Rede drastische Maßnahmen des Westens: "Berlin erwartet mehr als Worte". In einem Brief an John F. Kennedy äußert Brandt seinen Unmut und stellt klare Forderungen. Kennedy reagiert kühl. Von Brandts Forderungen wird lediglich eine erfüllt: Die USA schicken 1.500 zusätzliche Soldaten. Adenauer begibt sich erst am 22. August nach Berlin - drei Tage später als US-Vizepräsident Lyndon B. Johnson.
"Brandt alias Frahm"
Der Berliner Tragödie zum Trotz - in der Bundesrepublik ist immer noch Wahlkampf. Brandt wird hart attackiert. Adenauer spricht von "Brandt alias Frahm", stellt den SPD-Kandidaten als unzuverlässigen Menschen dar, der sich Nikotingenuss und dem Alkohol hingibt, der auf eine "rote" Vergangenheit zurückblickt. Brandt unterliegt dem rheinischen Urgestein, kann aber das Ergebnis der Sozialdemokraten um 4,4 Prozent auf 36,2 Prozent der Wählerstimmen steigern. Von Herbert Wehner protegiert, rückt Brandt im Mai 1962 zum stellvertretenden Parteivorsitzenden auf.
Explosive Stimmung an der Mauer
In Berlin bleibt die Lage angespannt, speziell nach dem Tod Peter Fechters, der von DDR-Grenzsoldaten beim Fluchtversuch erschossen wird. Anti-amerikanische Ressentiments finden ihren Ausdruck in Demonstrationen, die "Ami go home" fordern. Brandt muss dafür sorgen, dass Zwischenfälle an der Mauer nicht eskalieren. Besonders kritisch wird es während der Kuba-Krise, als sich auch in Berlin kurzzeitig US-amerikanische und sowjetische Panzer gegenüberstehen.
Neuausrichtung der Ostpolitik
Aus der Einsicht, die Mauer nicht beseitigen zu können, entwickeln Brandt und seine engsten Mitarbeiter, allen voran Egon Bahr, die Grundlage für eine neue Politik. Diese beruht auf der Basis des Verhandelns und Annäherns. Brandt schreibt in seinen Erinnerungen, Kennedys Brief nach dem Mauerbau sei es gewesen, "der den Vorhang wegzog und eine leere Bühne zeigte." Von den US-Amerikanern ermutigt, beginnt Brandt in kleinen Schritten auf den Osten zu zu gehen. Ein schwieriges Unterfangen, da die DDR zu diesem Zeitpunkt auf keinen Fall als legitimer Staat anerkannt werden darf.
Brandt in Harvard: "Friedliche Transformation"
"Koexistenz: Das unausweichliche Wagnis" lautet der Titel der Rede, die Brandt im Herbst 1962 vor Studenten an der Harvard Universität hält. Zum ersten Mal formuliert er öffentlich seine neu gewonnene Überzeugung von einer "Politik einer friedlichen und dynamischen Transformation". Während Brandts USA-Reise empfängt auch Kennedy den SPD-Politiker. Im Sommer darauf trägt Brandt dieselben Ideen einer aktiven Ostpolitik vor der Evangelischen Akademie Tutzing vor.
Kennedy: "Ich bin ein Berliner"
Im Juni 1963 steht Berlin erneut im Fokus des Weltgeschehens. Kennedy besucht den Westteil der geteilten Stadt. Mit Brandt und Adenauer besucht er die Mauer und spricht vor dem Rathaus die berühmten Worte: "Ich bin ein Berliner." Der US-Amerikaner befürwortet die von Brandt und Bahr begonnene Annäherung, empfiehlt kulturellen Austausch und den Ausbau des Handels mit der DDR. Nur zwei Monate später wird Kennedy in Dallas ermordet. Brandt reist zur Beerdigung seines Vorbilds und Partners in die USA und wird fast wie ein Staatsoberhaupt behandelt. Johnson empfängt ihn im State Department, Jackie Kennedy lädt ihn ins Weiße Haus ein.
Passierscheine: Wiedersehen an Weihnachten
Einen Teilerfolg für seine Bemühungen, die Mauer zumindest durchlässiger zu machen, kann Brandt im Winter 1963 verbuchen. Dank eines Passierschein-Abkommens mit der DDR-Führung können Westberliner über Weihnachten Verwandte und Freunde im Osten besuchen. Die Anbahnung dieses Abkommens erweist sich als knifflige diplomatische und juristische Aufgabe, denn eine Anerkennung der DDR als legitimer Staat soll unter allen Umständen vermieden werden. Mit Billigung von Kanzler Ludwig Erhard führt der Westberliner Senat Gespräche, die ab dem 18. Dezember 1963 - Brandts 50. Geburtstag - bis zum Jahreswechsel 1963/64 Besuche von Westberlinern im Ostteil der Stadt ermöglichen.
Mit harten Bandagen: Diffamierungskampagne gegen Brandt
Als der SPD-Vorsitzende Erich Ollenhauer 1964 stirbt, wird Willy Brandt mit einer eindrucksvollen Mehrheit von 314 von 324 Stimmen zu seinem Nachfolger gewählt. Selbstbewusst geht er 1965 erneut ins Rennen um die Kanzlerschaft. Durch das "Wahlkontor deutscher Schriftsteller" erfährt er prominente Unterstützung durch zahlreiche Intellektuelle, darunter Günter Grass und Hans Werner Richter. Die CDU mit Ludwig Erhard an der Spitze greift im Wahlkampf erneut Brandts Vergangenheit als Emigrant und SAP-Mitglied (Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands), als uneheliches Kind, aber vermehrt auch sein Privatleben an.
Rückzug nach Berlin
Wieder verliert die SPD die Wahl, Brandt ist physisch und psychisch angeschlagen. Er zieht sich nach Berlin zurück, wo er sich langsam erholt. Gemeinsam mit seinen Parteifreunden Egon Bahr und Heinrich Albertz betätigt er sich an der Schnittstelle zwischen Ost und West als "Mauerspecht", wie die SPD-Politiker ihre Politik der Annäherung beschreiben. Daneben bemüht sich der Regierende Bürgermeister um eine Aufwertung Westberlins. Mit Prämien, Steuernachlässen, der Schaffung von Arbeitsplätzen und kultureller Förderung sollen Menschen in die Stadt gelockt und vor allem dort gehalten werden. 1966 endet Brandts Berliner Zeit. Er geht als Außenminister im Kabinett Kiesinger nach Bonn. Im dritten Anlauf wird er 1969 schließlich Bundeskanzler. 1989 geht für Willy Brandt ein politischer Lebenstraum in Erfüllung. Drei Jahre vor seinem Tod darf er den Fall der Mauer erleben, gegen die er als Berliner Bürgermeister so energisch gekämpft hatte.