Wilhelm Simonsohn: "Ich bin Pazifist geworden"
Wilhelm Simonsohn, Jahrgang 1919, erlebt als Adoptivkind ein besonderes Schicksal. Im Zweiten Weltkrieg überlebt er einen Flugzeugabsturz. Heute ist er froh, in einem freien demokratischen Land zu leben. Ein Jahrhundertleben in Hamburg.
Wilhelm Simonsohn kann auf 102 Jahre bewegtes Leben zurückblicken, mit schweren und glücklichen Momenten: Seine ersten Monate lebt er in einem Waisenhaus, bis ihn die Simonsohns aufnehmen. Er wird "verkuppelt" in einem ganz positiven Sinne, wie er die Adoption rückblickend beschreibt. Als Luftwaffen-Pilot im Zweiten Weltkrieg schwört er sich, keine Bomben auf Siedlungen zu werfen. Später ist er dankbar über die Bereicherung seines Lebens durch seine Frau. Ihr Tod nach 60 gemeinsamen Jahren trifft Simonsohn hart. Aber er bleibt aktiv - bis 2019 tritt er noch regelmäßig als Zeitzeuge an Schulen auf und setzt sich unermüdlich für Demokratie und Pazifismus ein. "Wir brauchen keine Panzer", erzählt er dem NDR für die Dokumentation "Jahrhundertleben". "Was wir brauchen, sind Gerätschaften, die Panzer vernichten."
Goldene Zwanziger: "Frei von Sorgen und Nöten"
Wilhelm Simonsohn kommt am 9. September 1919 in Hamburg-Altona auf die Welt. Nach seiner Adoption wächst er als behütetes Einzelkind in der Steenkampsiedlung Hamburg-Bahrenfeld auf. Die Simonsohns leben in gutbürgerlichen Verhältnissen - "frei von Sorgen und Nöten." Nach der Schule geht es nach draußen, die Spielwiese der Kinder aus der Umgebung ist ein ehemaliges Flugplatzgelände: "Da haben wir unsere 'Schlachten' geschlagen." Die Mutter ist eine "höhere Tochter", ihr Vater besitzt eine Kunststein-Fabrik. Wilhelms Vater hat ein Kohlengeschäft mit Fuhrwagen, es geht der Familie in den 20er-Jahren wirtschaftlich so gut, dass sie sogar ein Dienstmädchen beschäftigen.
Mehr Liebe als Strenge im Elternhaus
Sein Elternhaus beschreibt Simonsohn als äußerst liebevoll: "Ich war immer Mittelpunkt der Familie." Vor Weihnachten zum Beispiel geht Wilhelm mit seinem Vater jahrelang auf den Hamburger Dom und "gewinnt" dort jedes Mal einen großen Teddy. Erst viel später erfährt er, dass sein Vater dem Schausteller das Kuscheltier heimlich abgekauft hatte, um ihm eine Freude zu machen. Aber der junge Wilhelm bekommt auch schon mal eine Pickelhaube oder ein Schwert geschenkt - sein Vater ist überzeugter Deutschnationaler. Und immer harmonisch geht es bei den Simonsohns auch nicht zu. Sein Vater habe ihm durchaus mal den "Hintern versohlt, wenn er "irgendwelche Untaten vollbrachte."
Ein jüdischer Vater mit nationaler Gesinnung
Doch er ist sich sicher: "Mein Vater wollte immer das Beste für mich." Er meldet seinen Sohn in der Yachtschule in Blankenese an. Schon mit 14 Jahren hat Wilhelm einen Bootsführerschein für Jugendkutter in der Tasche - er darf damit auf der Elbe von Hamburg nach Brunsbüttel fahren. Bei einem Streit in der Yachtschule mit gleichaltrigen Jungs der Marine-Hitlerjugend sagt einer zu Wilhelm: "Du Judenlümmel hast uns gar nichts zu sagen." Der Schock, als Jude beschimpft zu werden, sitzt tief. Abends sei er zu seinem Vater gegangen: "Papa, die haben mich da als Judenlümmel beschimpft. Und er sagte mir: 'Du bist weder ein Jude noch ein Lümmel.'" Was Wilhelm zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß: Sein Vater ist jüdischer Abstammung.
Doch der Vater macht keinen Hehl aus seiner deutschnationalen Gesinnung. Zu den Reichstagswahlen 1933 hängt er die Reichsflagge zur Dachluke heraus. Heute kann sich Wilhelm Simonsohn erklären, wie beides zusammenpasst. Der verlorene Erste Weltkrieg, in dem auch sein Vater als Soldat gekämpft hatte, habe eine schmachvolle Niederlage bedeutet. Es galt, sich zu revanchieren. "Das passte insofern zusammen, als dass es in Deutschland sozusagen überassimilierte Juden gab, die deutscher sein wollten als deutsch und sich besonders rechtsradikal orientiert hatten."
Wilhelm tritt 1935 aus der Hitlerjugend aus
Schließlich erfährt Wilhelm Simonsohn vom Pastor in der Bahrenfelder Lutherkirche gleich zwei "Familiengeheimnisse": "Ich muss dir sagen, deine Eltern sind nicht deine leiblichen Eltern. Die haben dich mal adoptiert." Und Wilhelm erfährt, dass sein Vater als Jude geboren ist, konvertiert zum Christentum. Da sei für ihn buchstäblich eine Welt zusammengebrochen. Einen halben Tag geht er nicht nach Hause. Als er dort schließlich ankommt, schauen ihn seine Eltern voller Angst an. "Wir sind uns dann alle drei in die Arme gefallen, haben alle geheult."
Inzwischen weiß Wilhelm Simonsohn, warum sein Vater so gehandelt hat. "Er selbst brachte es nicht übers Herz, mir das zu sagen." Wilhelm tritt 1935 aus der Hitler-Jugend aus - schließlich könne er als Kind nicht seine Eltern aufgeben.
Boykottaufruf: "Kauft nicht bei Juden!"
In der NS-Zeit läuft der Kohlenhandel des Vaters immer schlechter. Nach dem Boykottaufruf des Kreisleiters, nicht bei Juden zu kaufen, geht das Geschäft bankrott. Das hat auch für Wilhelm Folgen: Die Eltern können die Miete für die Wohnung im Steenkamp nicht mehr bezahlen - und auch nicht mehr das Schulgeld. "20 Reichsmark im Monat konnten wir nicht mehr bezahlen." Wilhelm kommt auf die Mittelschule und beendet sie mit der mittleren Reife. Sein Vater bringt ihn bei einem früheren Kunden, der Motorenfabrik von Gustav Altmann, als Volontär unter - eine Chance, anschließend auch noch eine Fachhochschule zu besuchen. Vater Simonsohn fährt nach der Pleite noch eine Zeit lang auf einem Schlepper. Dann wird er abgemustert - Juden dürfen "auf Schiffen unter deutscher Flagge nicht mehr angeheuert werden."
Vater Simonsohn stirbt an den Folgen der KZ-Internierung
Wilhelm kommt zum Arbeitsdienst und soll dann seine Wehrpflicht bei den Seefliegern leisten. "Keiner konnte sich davor drücken." In der Familie wächst die Sorge über die Zukunft des Vaters. "Mich holt man nicht ab", ist dieser felsenfest überzeugt. Doch Wilhelms Vater nützt seine deutschnationale Gesinnung nichts: Am 9. November 1938, der Reichspogromnacht, wird er doch abgeholt und ins KZ Sachsenhausen in Oranienburg gebracht. Wilhelm Simonsohn beantragt Sonderurlaub, um der Mutter beizustehen. Er setzt ein Schreiben auf und spricht bei der Dienststelle der Gauleitung in Hamburg vor, argumentiert damit, dass sein Vater doch als Soldat für Deutschland gekämpft habe. Weihnachten, als Wilhelm auf Fronturlaub vom Polenfeldzug ist, kommt sein Vater nach Hause - als gebrochener und kranker Mann. Ein Jahr später ist Wilhelm Simonsohn wieder auf Urlaub zu Hause. Er schläft in der Kammer neben dem Elternzimmer. Von dort hört er das Röcheln seines Vaters. "Dann hörte sein Röcheln auf, und ich wurde wach und stellte fest, dass mein Vater im Nebenzimmer verstorben war, noch 1939."
Nachtjäger bei der Luftwaffe - und Abschuss über Belgien
Wilhelms Mutter wird bei Fliegerangriffen auf Hamburg ausgebombt. Eine Wohnung in der Großen Bergstraße wird das neue Zuhause der Simonsohns. Derweil erlebt der 20-jährige Sohn als Soldat den Einmarsch in Warschau. Die Leichenberge und deren penetranter Geruch machen ihm schlagartig klar, "was für ein Elend so ein Krieg ist." Da habe er sich geschworen - im Rahmen seiner Möglichkeiten - niemals eine Bombe auf menschliche Siedlungen zu werfen. Er lässt sich als Flugzeugführer ausbilden - und geht im Anschluss zu den Nachtjägern, um "die Briten daran zu hindern, unsere Städte in Brand zu werfen."
In der Nacht zum 12. Mai 1944, noch vor der Invasion der Alliierten, wird seine "Junkers Ju 88" von einem britischen Jagdbomber vom Typ "Mosquito" aus rund 6.000 Metern Höhe über Belgien abgeschossen. Er kann sich aus der brennenden Maschine retten, auch sein Funker und der Bordmechaniker überleben. "Ich schrie dann: 'Aussteigen durch eine Bodenklappe!'" Sein Fallschirm trudelt zu Boden. "Ich hing am Schirm und lebte noch! Das war ein Glücksgefühl." Wilhelm Simonsohn landet bei Mechelen und kommt verletzt ins Lazarett. Dann wird der Luftraum neu aufgeteilt, Wien ist sein neuer Einsatzort. Auf der Zugfahrt von Hamburg in die österreichische Hauptstadt lernt er seine zukünftige Frau Elisabeth aus Hannover kennen - "seine große Liebe". Sie tauschen Adressen aus und treffen sich 1945 noch vor Kriegsende bei Linz wieder.
Aufstieg beginnt in den Wirtschaftswunder-Jahren
Nach dem Krieg leben Wilhelm und Elisabeth in einem Zimmer bei seiner Mutter in "wilder Ehe". Sie heiraten am 1. November 1945 in Hannover, relativ einfach in geliehener Kleidung. Wilhelm Simonsohn beginnt in der öffentlichen Verwaltung zu arbeiten. Erst 1953 bekommen sie eine eigene Wohnung in Eimsbüttel, da sind schon Zwillinge unterwegs. Am 29. Januar 1954 kommen Barbara und Cornelia in der Uniklinik in Eppendorf zur Welt. Wilhelm Simonsohn bringt sich als Vater ein, wechselt Windeln und schiebt die Mädchen im Kinderwagen durchs Niendorfer Gehege. "Also geguckt haben schon viele, aber ich hatte viel Spaß mit den Kindern." Beruflich geht es für Wilhelm Simonsohn nach oben: Er schafft es bis den gehobenen Verwaltungsdienst. Die letzten 14 Jahre seines Berufslebens ist er Verwaltungsleiter in der Hochschulabteilung des Universitätskrankenhauses.
"Die Reisen waren das schönste" am Ruhestand
Als Wilhelm Simonsohn 1981 in Rente geht, kauft sich das Ehepaar einen Camping-Bus und reist 18 Jahre lang durch Deutschland und Europa, bis nach Nordafrika. Noch mit 80 Jahren kurvt Wilhelm Simonsohn durch die Sahara. "Das war dann allerdings die letzte Tour. Dann war Schluss": wegen einer altersbedingten Makuladegeneration.
2005 verunglückt Elisabeth, nach mehreren Wochen im Koma stirbt sie. Den Tod seiner Frau beschreibt er als das Schlimmste, was er in seinem Leben erleidet. 60 Jahre seien sie durch dick und dünn gegangen. Die Momente, in denen er selbst dem Tode näher als dem Leben war, würden längst nicht so schwer wiegen. Wilhelm Simonsohn fällt nach dem Verlust die Decke auf den Kopf, er ist rast- und ruhelos: "Ich bin dann herumgereist wie ein Irrer." Er folgt den Spuren gemeinsamer Reisen.
Unermüdlicher Einsatz für Frieden und Demokratie
Doch er findet eine neue Passion: 15 Jahre lang geht Wilhelm Simonsohn in Schulen, bringt jungen Menschen Begriffe wie Demokratie nahe: "In diesem Deutschland, das ich so liebe, wo man seine Meinung so frei aussprechen kann." Und: In dem man frei wählen dürfe. Er mache auch kein Geheimnis daraus, dass er nach den Erfahrungen des Krieges ein Pazifist sei. Unter dem Titel "Ein Leben zwischen Krieg und Frieden" schreibt er 2011 seine Autobiografie und beeindruckt damit die Jury des Biografie-Wettbewerbs "Was für ein Leben!". In der Kategorie "Zeitzeuge" gewinnt Simonsohn den ersten Preis.
Für seinen unermüdlichen Einsatz bekommt er 2019 auch das Bundesverdienstkreuz verliehen. Er erhält die Auszeichnung im Rahmen einer kleinen Feier im Turmsaal des Hamburger Rathauses. Mit dabei ist ein Brief von Bundespräsident Steinmeier. Wilhelm Simonsohn begeistert sich auch für die "Fridays for Future"-Bewegung. Für die nächsten 100 Millionen Jahre wünsche er sich, dass diese Erde weiter existiert - nicht nur im Interesse seiner Enkelkinder.
"Ich habe meiner Frau zu wenig Blumen geschenkt"
Auf sein Leben blickt Wilhelm Simonsohn häufiger zurück. Aber eher stückchenweise, wie er betont. Zu seinen Höhepunkten gehöre das Erleben von 75 Jahren Frieden - er sei froh, dass nach 1945 die Weichen für ein vereintes Europa gestellt wurden. Und er wisse die Wiedervereinigung zu schätzen, die "uns so in den Schoß gefallen ist" - als Entwicklung, die mit Willy Brandts Ostpolitik und seinem Kniefall in Warschau begonnen habe. Ebenso wie die Tatsache, in einem Land zu leben, in dem man frei seine Meinung äußern und auch Missstände rügen könne.
Manchmal hadert er mit seinem Schicksal. "Wenn ich kein Adoptivkind wäre, welche Wahl hätte ich dann gehabt." Doch es überwiege die Dankbarkeit, im Krieg nahezu unversehrt aus der brennenden Maschine herausgekommen zu sein. Ein Wermutstropfen aber bleibt: Seiner Frau habe er zu wenig Blumen geschenkt.