Hinrich Wilhelm Kopf: Gründervater mit Schattenseiten
Hinrich Wilhelm Kopf war Mitbegründer des Landes Niedersachsen und sein erster Ministerpräsident. Doch sein Verhalten während der NS-Zeit wirft einen dunklen Schatten auf seine demokratischen Verdienste.
Hinrich Wilhelm Kopf führte in jungen Jahren ein bewegtes Leben mit unterschiedlichsten Stationen. Er wurde am 6. Mai 1893 in Neuenkirchen bei Cuxhaven geboren. Als 16-Jähriger brach er die Schule ab und wanderte nach New Jersey in den USA aus. Nach nur neun Monaten kehrte Kopf nach Deutschland zurück und besuchte wieder die Schule. Nach dem Abitur und einer Lehre in einem landwirtschaftlichen Betrieb absolvierte Kopf schließlich ein Studium der Rechts- und Staatswissenschaften in Marburg und Göttingen.
Kopf tritt 1919 in die SPD ein
Zweimal musste Hinrich Wilhelm Kopf sein Studium unterbrechen - aufgrund von Einsätzen im Ersten Weltkrieg 1914/15 und ab 1917. Direkt nach dem Krieg trat der 26-Jährige 1919 in die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) ein. Ein erstes politisches Amt nahm Kopf als persönlicher Referent des Reichsministers des Innern Eduard David wahr. Ab 1923 zog es den Sozialdemokraten auf ein neues Terrain: Fünf Jahre arbeitete Kopf im Bank- und Versicherungswesen, bevor er sich wieder der Politik zuwendete: als Landrat in seinem Heimatkreis Hadeln.
Nazis entlassen Kopf aus dem Dienst
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 verlor Kopf seine Anstellung im öffentlichen Dienst im schlesischen Regierungsbezirk Oppeln, die er erst 1932 angetreten hatte. Während der kommenden Jahre blieb der Sozialdemokrat gezwungenermaßen der Politik fern und bestritt seinen Lebensunterhalt als Kaufmann und Landwirt.
Bereicherung an jüdischem Eigentum
Ab 1939 kam es zu einer Zusammenarbeit mit dem NS-Regime, die jedoch erst weit nach Kopfs Tod aufgearbeitet wurde. Im Auftrag der NS-Regierung übernahmt Kopf einen Posten als Vermögensverwalter im besetzten Polen. Zunächst führte er die Geschäfte mit seiner privaten Firma. Von 1940 bis 1943 war er für die Haupttreuhandstelle Ost "Treuhänder konfiszierter polnischer und jüdischer Güter" und sogenannter Enteignungskommissar. Kopf habe sich am Eigentum jüdischer und polnischer Mitbürger als Immobilienverwalter bei deren Enteignung bereichert, stellte die Historische Kommission für Niedersachsen und Bremen 2013 fest. In diese Zeit fällt auch die Hochzeit mit seiner Ehefrau Josefine, einer ehemaligen Sekretärin von Propagandaminister Joseph Goebbels, die ihn 1947 wieder verließ.
Gründungsprozess statt Auslieferung
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Kopf noch 1945 von der Britischen Militärregierung zum Oberpräsidenten der Provinz Hannover ernannt. Er beteiligte sich am Gründungsprozess des neuen Bundeslandes Niedersachsen, dessen erster Ministerpräsident er am 1. November 1946 wurde. Zusammen mit Adolf Grimme und Fritz Sänger war er maßgeblich an der Ausarbeitung der Landesverfassung beteiligt, die 1951 verabschiedet wurde. Zwar stand Kopf seit Ende 1947 auf der Kriegsverbrecherliste der alliierten Kriegsverbrecherkommission. Doch sein Fall wurde nicht näher untersucht, im Gegenteil: Er wurde wieder von der Liste gestrichen. Daraufhin ersuchte Polen 1948 bei der britischen Kontrollkommission eine Auslieferung Kopfs, die das Militärgericht jedoch ablehnte.
Kopf wird erster Ministerpräsident Niedersachsens
Danach stand Kopfs politischer Karriere in der Bundesrepublik nichts mehr im Wege. Zwei Amtszeiten lang führte der SPD-Politiker, der als volksnah und bodenständig galt, das neu gegründete Land Niedersachsen aus dem Chaos der Nachkriegszeit in eine stabile Zukunft. Wie so oft in seinem Leben war es irgendwann wieder Zeit für eine Veränderung im Leben von Kopf. Zwei Jahre lang kehrte er der Politik den Rücken und fungierte als Aufsichtsratsmitglied beim Hüttenwerk Peine. Als niedersächsischer Innenminister erschien er 1957 wieder auf der politischen Bühne, die er nun bis zum seinem Tod nicht mehr verließ. Ab 1959 übernahm Kopf erneut das Amt des Ministerpräsidenten. Er starb am 21. Dezember 1961 in Göttingen.
Dissertation von Teresa Nentwig korrigiert das Bild von Kopf
Bis weit in die 2.000er-Jahre galt Hinrich Wilhelm Kopf als demokratisches Vorbild. Noch zu seinen Lebzeiten wurde ihm 1953 das Großkreuz der Bundesrepublik Deutschland verliehen. Ihm zu Ehren wurden Plätze, Straße und Schulen in Niedersachsen benannt. Doch die 2013 vorgelegte Doktorarbeit der Historikerin Teresa Nentwig lässt Kopfs Handeln während der Zeit des Nationalsozialismus in einem anderen Licht erscheinen. In ihrer Dissertation kommt Nentwig zu dem Ergebnis, dass Kopf zwar kein NSDAP-Mitglied gewesen sei. Er sei aber "eines dieser vielen kleinen Rädchen im Getriebe der NS-Vernichtungsmaschinerie" gewesen, so die Historikerin. Kopf sei als Mitarbeiter einer nationalsozialistischen Behörde in Polen an der Verwertung des Vermögens von verfolgten und ermordeten Juden beteiligt gewesen.
Weil: Kopf hat den Landtag belogen
Kopf selbst hatte Vorwürfe, er sei in Nazi-Verbrechen verstrickt gewesen, stets bestritten, auch im Niedersächsischen Landtag. Deswegen befand Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) 2013, Kopf habe "den Landtag angelogen". Die Historische Kommission für Niedersachsen und Bremen befasste sich mit der Causa Kopf. Sie kam schließlich zu dem Schluss: "Kopfs unstrittige Lebensleistung als zweimaliger Ministerpräsident, mehrfacher Landesminister und parteiübergreifend anerkannter Landes- wie Bundespolitiker steht seinen ebenso unstrittigen politisch-moralischen Verfehlungen während der Zeit des Nationalsozialismus markant gegenüber."
Aus Hinrich-Wilhelm-Kopf-Platz wird Hannah-Arendt-Platz
Als Folge wurde aus dem Hinrich-Wilhelm-Kopf-Platz vor dem Landtag in Hannover 2015 im Andenken an die jüdische Politologin der Hannah-Arendt-Platz. Auch Schulen legten in den folgenden Jahren den Namen ab, Straßen wurden umbenannt. Historiker und Politiker empfehlen, mit Kopfs Andenken differenziert umzugehen. So könne man beispielsweise bei Straßennamen - bei Beibehaltung wie Änderung des Namens - auf einem zusätzlichen Schild auf Kopfs Vergangenheit hinweisen. Sein Grab auf dem Stadtfriedhof Stöcken in Hannover bleibt erhalten, wird aber nicht länger - wie für ein Ehrengrab üblich - von der Stadt geschmückt.
Hinrich Wilhlem Kopfs Verdienste um den Aufbau der Demokratie in Niedersachsen sind unbestreitbar - ebenso wie sein Fehlverhalten während der Zeit des Nationalsozialismus. Über seiner historischen Leistung liegt ein dunkler Schatten. Damit steht Kopf nicht allein unter den Politikern der Nachkriegszeit, von denen viele in die Handlungen des NS-Regimes verstrickt waren, beispielsweise als Mitglieder der NSDAP oder anderer NS-Organisationen.