Historiker: "Frieden im Nahen Osten greifbarer als in der Ukraine"
Der vielfach ausgezeichnete Historiker Prof. Jörn Leonhard spricht über den D-Day, der vor 80 Jahren den Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg einläutete, aber auch über aktuelle Kriege.
Heute vor 80 Jahren war der sogenannte D-Day: Am Morgen des 6. Juni 1944 landen US-amerikanische, britische und kanadische Soldaten an mehreren Stränden der Normandie - entscheidender Wendepunkt im Kampf gegen Hitler-Deutschland.
Welche Bedeutung hat dieser D-Day historisch? War das wirklich der Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg?
Jörn Leonhard: Es ist sicher einer der Wendepunkte. Es gibt andere, insbesondere die Schlacht von Stalingrad, vielleicht auch das, was in Nordafrika 1942/43 passiert. Aber 1944, das ist schon ein psychologischer Wendepunkt, weil es jetzt eine zweite sichtbare Front für alle Deutschen gibt, also nicht allein die Ostfront, sondern auch eine Front im Westen. Es ist der Augenblick, in dem für die Deutschen erkennbar wird, dass dieser Krieg wirklich nicht zu gewinnen ist, und ein Ende wird jetzt für viele absehbar. Deshalb hat dieser Tag eine erhebliche Bedeutung.
Seit vielen Jahren beschäftigen Sie sich mit diesem Thema, auch in Ihrem aktuellen Buch "Über Kriege und wie man sie beendet". Darin betrachten Sie viele Friedensverhandlungen. Inwiefern unterscheiden sich die Friedensverhandlungen beim Zweiten Weltkrieg von anderen?
Leonhard: Der große Unterschied ist, dass insbesondere durch die enormen deutschen Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs irgendwann die Option, dass man mit diesem Deutschland verhandelt, nicht mehr existiert. Auf den großen Kriegskonferenzen - Casablanca, Jalta - spielt Deutschland als Verhandlungspartner keine Rolle mehr, und deshalb endet der Zweite Weltkrieg auch nicht mit einer Friedenskonferenz, sondern mit einer bedingungslosen Kapitulation Deutschlands, das quasi seine Eigenschaft als Staat verliert. Im Ersten Weltkrieg ist das anders: Da bleibt der deutsche Staat letztlich erhalten, und Deutschland unterschreibt einen Friedensvertrag, nämlich den von Versailles. Dass ist 1945 ganz anders, und das hat, zusammen mit der doppelten deutschen Staatlichkeit, die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert tiefgreifend geprägt.
Die Schlussfolgerungen Ihres Buches haben Sie in zehn Thesen zusammengefasst, unter anderem: "Wer noch Chancen auf dem Schlachtfeld sieht, wird den Kampf fortsetzen." Wenn wir auf aktuelle Kriege schauen, ist in der Ukraine von Putin in puncto Friedensbemühungen nicht sehr viel zu erwarten, oder?
Leonhard: Sie sprechen etwas ganz Wichtiges an: Es muss allen Kriegsakteuren klar sein, dass sie militärisch nichts mehr zu gewinnen haben. Und im Augenblick spricht sehr viel dafür, dass Putin an diesem Punkt nicht ist. Und solange er glaubt, militärisch etwas erreichen zu können - und das zeigen auch historische Beispiele - wird er das fortsetzen. Darin besteht das Problem. Man muss Putin zu diesem Punkt bringen, dass er diese Perspektive verliert. Denn die Alternative dazu ist, dass eine Seite einseitige Konzessionen anbietet - und das wissen wir aus historischen Beispielen, dass einseitige Konzessionen, etwa der Ukraine, den Aggressor eher noch mal anstacheln können. Das hat historisch immer wieder zur Fortsetzung, manchmal sogar zur Intensivierung von Gewalt geführt.
Was ist denn überhaupt der Unterschied zwischen Frieden und Waffenstillstand? Welche Voraussetzungen für einen echten Frieden müssen erfüllt werden?
Leonhard: Auch das ist eine ganz wichtige Frage, weil wir heute, anders als etwa in der Vormoderne, mit Frieden allein nicht die Abwesenheit militärischer Gewalt identifizieren. Sondern Frieden hat für uns zu tun mit Gerechtigkeit, etwa mit der Verfolgung von Kriegsverbrechen, mit Prozessen gegen Kriegsverbrecher, aber vielleicht sogar mit Ideen von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit. Wir haben also einen aufgewerteten Friedensbegriff, und das heißt im Umkehrschluss, dass die Unterzeichnung eines Waffenstillstandsvertrages nur der erste Schritt zu einem umfassenden Frieden ist.
Man könnte sagen, es gibt einen militärischen Frieden, es gibt dann vielleicht so etwas wie einen politischen Frieden mit der Einigung über Bevölkerungen und Grenzziehungen, aber das sagt dann immer noch nichts darüber aus, ob die Feindbilder in den Köpfen verloren gehen. Erinnern wir uns doch an dem D-Day auch daran, wie lange es gedauert hat, bis zwischen Franzosen und Deutschen auch mental Frieden entstanden ist. Frieden ist eben nicht ein Moment, sondern ein langfristiger Prozess, und das müssen wir uns klarmachen, wenn wir auf die derzeitigen Konflikte blicken. Das haben wir in gewisser Weise in der europäischen Geschichte seit den Weltkriegen immer wieder erlebt.
Gerechtigkeit und Frieden wünschen wir uns auch für den Gazastreifen. Wie ist da Ihre Prognose?
Leonhard: Sie ist eigentlich positiver. Das hat damit zu tun, dass es im Nahen Osten eine Erfahrung mit diesen Konflikten gibt und dass bei allen Problemen die USA gegenüber Israel, aber auch Ägypten, Saudi-Arabien, Katar gegenüber den Palästinensern, in gewisser Weise eine Rolle als Vermittler einnehmen können. Und: Wir haben im Nahen Osten mit der Zwei-Staaten-Lösung einen konkreten Plan, an dem man ansetzen kann. Es gibt sozusagen sehr viel mehr Ansätze. Wenn man diese Punkte zusammennimmt - historische Erfahrung, Vermittler und eine bislang verhinderte internationale Eskalation -, finde ich den Frieden dort, bei allen Problemen, relativ greifbarer als in der Ukraine.
"Über Kriege und wie man sie beendet", heißt das aktuelle Buch von Jörn Leonhard, Historiker, Professor für Neuere und Neueste Geschichte Westeuropas am Historischen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg.
Das Interview führte Philipp Schmid.