Deutscher Kinderschutzbund wird 1953 in Hamburg gegründet
Nach dem Zweiten Weltkrieg gibt es in Deutschland keine Lobby für Kinder. Weil viele von ihnen wie Lohnsklaven arbeiten und Prügel beziehen, wird am 16. November 1953 der Deutsche Kinderschutzbund e.V. in Hamburg gegründet.
"Das Kind ist das verletzlichste Glied der Gesellschaft - jedes Kind ist Dein Kind." Fritz Lejeune, Arzt (1892-1966)
Der Arzt Fritz Lejeune unterhält in den Nachkriegsjahren in Hamburg eine Praxis. Tagtäglich sieht er als Mediziner die Spuren von Gewalt an den Schwächsten der Gesellschaft. Denn Prügel gehören Anfang der 1950er-Jahre zu den gängigen Erziehungsmethoden. Außerdem müssen viele Kinder arbeiten: "Der kleine Heinz, der auch bei acht Grad unter null in einem Schuppen schlafen muss, ist für die Familie nicht mehr als ein Arbeitssklave. Als Lohn bezieht er regelmäßig Prügel. Die Leute sind unbelehrbar", zitiert der WDR Lejeune.
Kinderschutzbund will Verwahrlosung und Hunger bekämpfen
Bereits zwischen 1898 bis 1933 gibt es den Verein zum Schutz der Kinder vor Ausnutzung und Misshandlung. Nach dem Zweiten Weltkrieg besteht keine organisierte Kinderschutzarbeit. Es gibt folglich keine Regelungen, die Kinder vor Ausbeutung schützen. Lejeune gründet deshalb am 16. November 1953 den Deutschen Kinderschutzbund e.V. (DKSB) in der Hansestadt. Seine anfängliche Motivation ist es, Kinder vor Verwahrlosung, Obdachlosigkeit und Hunger zu schützen. Politisch spielt der Kinderschutzbund damals noch keine Rolle.
In der ersten Ortsgruppe in Hamburg ist der Arzt mit Fürsorgern, heute als Sozialarbeiter bekannt, aktiv. Lejeunes Engagement stößt auf positive Resonanz. Bald werden auch in anderen größeren Städten Ortsgruppen gegründet. Zu den ersten Projekten des Vereins gehören die Einrichtung von Suppenküchen und Spielstuben sowie die Sammlung von Kleidung und Spielzeug.
Präventive Konzepte lösen Forderungen nach Strafe ab
Schon wenige Jahre nach seiner Gründung arbeitet der Kinderschutzbund in der ganzen Bundesrepublik. Eine seiner ersten Forderungen lautet: "Schluss mit der Prügelstrafe zu Hause und in der Schule!" 1962 fordert Lejeune zunächst harte Strafen für "Kinderentführer, Kinderverführer, Kinderverletzer". Wenn es nach ihm geht, gehören sie auf unbestimmte Zeit eingesperrt. Doch der Kinderschutzbund entwickelt auch präventive Konzepte. Seit Anfang der 1960er kümmern sich die Kinderschützer um die Bildung der Eltern. In Kursen können diese gewaltfreie Erziehung erlernen.
In den 1970ern sagt sich der Verein mit der Deutschen Charta des Kindes und der Hamburger Erklärung von "triebrepressiven und gegenaggressiven" Konzepten los. Stattdessen gilt der Grundsatz "Hilfe statt Strafe". Dabei berücksichtigt der Kinderschutzbund den Zusammenhang von struktureller Gewalt in Verbindung mit sozialen und ökonomischen Verhältnissen. "Unser Ansatz ist immer Hilfe zur Selbsthilfe und niemals nur versorgen, sondern vorsorgen", sagt Heinz Hilgers, DKSB-Präsident von 1993 bis 2023.
Schutzzentrum und Sorgentelefon - Hilfsangebote für Kinder
Als Hilfsangebot für Kinder und Eltern startet 1970 beim Kinderschutzbund in Köln das erste Sorgentelefon. In der Folge entsteht ein bundesweites Netzwerk mit telefonischen Beratungsangeboten für Kinder, Jugendliche und Eltern. Köln ist wieder Vorreiter, als es um die Gründung eines Kinderschutzzentrums geht - 1982 öffnet es seine Türen als Anlaufstelle für Kinder. Diese Schutzzentren beraten in Krisensituationen, helfen bei Kindeswohlgefährdung und bieten Programme zur Gewaltprävention an. In manchen Einrichtungen gibt es Wohngruppen für Minderjährige.
Dunkle Kapitel beim Deutschen Kinderschutzbund
Jahrzehnte nach der Gründung des Kinderschutzbundes wird Lejeunes dunkle Vergangenheit bekannt: Schon Mitte der 1920er-Jahre war der Arzt Mitglied der NSDAP, später machte er im Dritten Reich als Medizinhistoriker Karriere. Bis 1964 leitete Lejeune den Kinderschutzbund. Zwei Jahre später starb er. In den 1980er-Jahren erschüttern außerdem Missbrauchsskandale den Verein. Doch erst 2013 kommen die Übergriffe auf Kinder in einzelnen Einrichtungen durch Berichte in den Medien ans Licht. Weil die einzelnen Ortsverbände weitgehend unabhängig arbeiten, gibt es keine übergreifende Kontrollinstanz. Insgesamt habe es sich um Einzelfälle gehandelt, von einer systematischen Unterwanderung des Verbands durch Pädosexuelle könne keine Rede sein, heißt es im Untersuchungsbericht des Göttinger Instituts für Demokratieforschung aus dem Jahr 2015.
Das Recht auf gewaltfreie Erziehung tritt 2000 in Kraft
Parallel kämpfen die Mitglieder des Kinderschutzbundes für mehr Rechte und Gesetzesänderungen. 1980 tritt die Kindschaftsrechtsreform in Kraft - ein wichtiger Schritt im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern. Es besagt, dass "entwürdigende Erziehungsmaßnahmen unzulässig sind". Für ein Gewaltverbot kann sich die Politik nicht durchringen. Der Kampf des Kinderschutzbundes geht also weiter. Nach mehr als 25 Jahren unermüdlicher Lobbyarbeit bei der Politik, gelingt im Jahr 2000 ein großer Erfolg: Am 8. November tritt in Deutschland das Recht jedes Kindes auf gewaltfreie Erziehung in Kraft: "Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig", heißt es im Paragraf 1631 Absatz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches. Der Schutz der Schwächsten in Familie, Schule und Vereinen hat oberste Priorität.
Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen soll ins Gesetz
Die Gesetzesänderung ist nur ein Zwischenschritt. Nächstes Ziel der Kinderschützer: Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen, die seit 1992 gilt, soll in Deutschland ins Grundgesetz aufgenommen werden. Denn trotz mehr Rechten müssen Kinder noch immer physische und psychische Gewalt ertragen: 82,6 Prozent der Eltern bestrafen im Jahr 1996 ihre Kinder mit einem Klaps auf den Po. 2001 sind es immerhin noch 76,4 Prozent. Verabschiedet werden allerdings nur einzelne Gesetzesvorhaben - dazu gehören das Gute-KiTa-Gesetz und eine unabhängige Monitoring-Stelle zur UN-Kinderrechtskonvention beim Deutschen Institut für Menschenrechte. Es handelt sich lediglich um kleine Änderungen im einfachen Recht.
360 Kinder werden täglich Opfer von Gewalt
Der große Wurf in Sachen Kinderrechte ist der Politik bis heute nicht gelungen - die Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz. Obwohl die aktuellen Zahlen dramatisch sind und wachrütteln sollten: 2022 gibt es zehn Prozent mehr akute Kindeswohlgefährdungen als 2021, betroffen sind laut Statistischen Bundesamt in Wiesbaden 62.300 Kinder. Insgesamt werden rund 360 Kinder täglich Opfer von Gewalt; 48 von sexueller Gewalt. Konkret sind es im vergangenen Jahr 17.437 Fälle. Die Zahl der Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch beträgt 15.520. Die Täter und Täterinnen kommen meist aus der Familie und dem näheren Umfeld. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht davon aus, dass bis zu eine Million Kinder und Jugendliche in Deutschland bereits sexuelle Gewalt durch Erwachsene erfahren mussten oder erfahren. Das sind rund ein bis zwei Kinder in jeder Schulklasse. In der Statistik tauchen aber nur Fälle auf, die ausermittelt sind. Das Bundeskriminalamt geht von vielen weiteren Fällen im Dunkelfeld aus.
Ein weiterer Tatort für sexuelle Belästigung ist das Internet. Jedes vierte Kind erlebt im Netz Missbrauch, auch Cybergrooming genannt. Für eine bessere Verfolgung der Taten fordert der Kinderschutzbund bessere Möglichkeiten zur Datenspeicherung.
Auch Ampel-Regierung stärkt Kinderrechte bisher nicht
Eine geplante Gesetzesänderung der Großen Koalition für mehr Kinderrechte scheitert 2021 im Bundestag. Auch die jetzige Ampel-Regierung hat sich im Koalitionsvertrag darauf geeinigt, die Kinderrechte zu stärken und im Grundgesetz zu verankern. Passiert ist bisher nichts. Grund genug für den Deutschen Kinderschutzbund, sich weiter für die Rechte von Kindern und Jugendlichen einzusetzen. Mit der Kampagne "Gewalt ist mehr, als du denkst" von 2022 will er aufrütteln, denn schon für Sätze wie "Jetzt stell dich nicht so an!" oder "Das habe ich dir doch schon dreimal gesagt!" gibt es kaum ein Bewusstsein. Gewalt an Kindern ist viel mehr als ein Klaps auf den Po.