Stahlnetz: Der erste Straßenfeger
Am 14. März 1958 strahlte die ARD die erste Folge der Krimiserie Stahlnetz aus - und ganz Deutschland saß vor der Glotze. Die Filme von Regisseur Jürgen Roland waren echte Straßenfeger.
"Mordfall Oberhausen": Unter diesem Titel lief am 14. März 1958 die erste Folge der Fernsehserie Stahlnetz. Es war ein Freitag - und die Geburtsstunde eines Fernsehgenres: der deutschen Krimiserie. Bis 1968 lockten die zunächst 22 Folgen Millionen Zuschauer vor die Bildschirme. Stahlnetz war ein Straßenfeger - und der erste große Erfolg des jungen deutschen Fernsehens. In den meisten Wohnzimmern gab es Ende der 50er-Jahre noch keinen Fernseher. Also klingelten die Leute bei Freunden oder Nachbarn, die schon ein Gerät besaßen. Es heißt, manche Folgen brachten es auf eine Einschaltquote von 92 Prozent.
Stahlnetz: Wahre Fälle als Vorlage
Das Besondere der Stahlnetz-Serie war: Die Filme basierten auf echten Kriminalfällen. Es ging um Bankräuber, Mörder und Diebespärchen aus dem wahren Leben. Die Täter waren nicht mehr Furcht einflößende Psychopathen wie in den alten Edgar-Wallace-Filmen, sondern Menschen aus der Mitte der Gesellschaft. Zu Beginn jeder Folge tauchte folgender Text auf dem Bildschirm auf:
Dieser Fall ist wahr.
Er wurde aufgezeichnet
nach Unterlagen der
Kriminalpolizei.
Nur Namen von Personen,
Plätzen und die Daten wurden
geändert, um Unschuldige
und Zeugen zu schützen.
Text aus der TV-Serie Stahlnetz
Bis heute eine der bekanntesten Stahlnetz-Folgen ist "Das Haus an der Stör" aus dem Jahr 1963. Der Film orientiert sich an einem der spektakulärsten Mordfälle der Nachkriegszeit: Im November 1946 brachte eine Elmshornerin gemeinsam mit ihrem Geliebten ihren Ehemann um, der aus Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war. Erst acht Jahre später kam die Polizei dem Täterpaar auf die Spur.
Aus der ganzen Bundesrepublik stammten die Fälle: Banküberfall in Köln, Mord im Ruhrgebiet, Verbrechen von Jugendbanden in München - in Norddeutschland spielten neun Fälle der ersten Stahlnetz-Generation. Hamburg mit seiner verruchten Hafengegend war gleich viermal Kulisse. Aber auch Lübeck, die Nordsee-Insel Norderney, Hannover und ein Kurort im Harz wurden Schauplatz der Stahlnetz-Ermittlungen.
"Wozu ist ein Mensch fähig?"
"Ein Drehbuch für Stahlnetz erforderte viel Recherche", erzählte Regisseur Jürgen Roland in einem NDR Interview. Sein Name ist untrennbar mit der Stahlnetz-Serie verbunden. Bei allen Filmen von 1958 bis 1968 führte er Regie, die Drehbücher stammten fast alle von Wolfgang Menge. Bei der Recherche nahmen es die beiden sehr genau, erinnert sich Roland: "Wir konnten ja nicht schreiben: Dieser Fall ist wahr - und dann war es reine Fantasie." Wichtigste Quelle für ihn waren die Polizeiakten. Deshalb vermied Roland die Bezeichnung "Krimiserie". Er sprach lieber von einer "Polizeifilmreihe".
Was Roland an den Fällen am meisten reizte, war die Psychologie der Täter. "Mich interessiert mehr der Täter als das Opfer. Mich fasziniert die Frage: Wozu ist ein Mensch fähig?", erklärte Roland. "Der Krimi ist für mich, wie unter einem Brennglas zusammengefasst, das, was unser Leben, eine Gesellschaft, eine Zeit ausmacht." I
Der echte Kommissar am Drehort
Die Stahlnetz-Filme zeigen detailgenau auf, wie mühsam die tägliche Polizeiarbeit ist - bis der Mörder überführt ist oder die Bankräuber gefasst sind. Voller Stolz berichtete Jürgen Roland in den 90er-Jahren: "Die einzelnen Folgen liefen jahrelang in den Landeskriminalämtern als Lehrfilme." Kein Wunder, denn beim Dreh überließ der Filmemacher nichts dem Zufall. "Während der Dreharbeiten saß immer derjenige Polizeikommissar im Studio, der den echten Fall betreut hatte", verriet Roland. "Der Kommissar schritt ein, wenn etwas nicht stimmte. Etwa wenn die Vernehmung nicht richtig wiedergegeben wurde. Oder der Kommissar sagte: Der Brieföffner muss vom Schreitbtisch weg. Der liegt während einer Vernehmung nicht dort!" Die ersten beiden Stahlnetz-Folgen aus dem Jahr 1958 dauerten nur 35 Minuten. Im Laufe der Jahre gerieten die Filme immer länger. So hatten die Ermittler in der Folge "Strandkorb 421" im Jahr 1964 gut 93 Minuten Zeit, um den Fall zu lösen.
Wegbereiter für den Tatort
Die Stahlnetz-Serie gilt als ein Wegbereiter des Tatorts. Jürgen Roland selbst hat auch einige Tatort-Filme gedreht. Aber anders als beim Tatort gab es beim Stahlnetz keine festen Kommissare, die die Zuschauer mit der Zeit immer besser kennenlernten. Zwar übernahmen Schauspieler wie Heinz Engelmann gleich mehrmals die Rolle eines Stahlnetz-Kommissars. Aber sie spielten stets eine andere Figur. Es gab auch keinen festen Wochentag für die Stahlnetz-Folgen. Mal lief die Erstausstrahlung einer Folge an einem Freitag, mal an einem Dienstag oder einem Sonntag.
Die Idee für die Stahlnetz-Serie brachte Jürgen Roland 1956 von einer Studienreise in die USA mit. Dort lief die US-Fernsehserie "Dragnet", in der Kriminalfälle für das Fernsehen im dokumentarischen Stil aufbereitet wurden. Nicht nur das Konzept beider Serien ist ähnlich. Auch die berühmte Titelmusik der Stahlnetz-Serie, die viele Zuschauer noch heute im Ohr haben, ist aus der US-Serie übernommen. Ein Merkmal der Stahlnetz-Filme war, dass ein Erzähler aus dem Off die Zuschauer mit Zusatzinformationen versorgte. Dieser Handgriff verstärkte den dokumentarischen Charakter der Filme. Was war das Erfolgsrezept? Roland gab darauf folgende Antwort: "Ich versuchte, übertriebene Gewalt möglichst auszusparen. Stattdessen setzte ich lieber auf intelligente Texte und exzellente Schauspieler."
Freddy Quinn im Stahlnetz
Viele deutsche Volksschauspieler waren in den Stahlnetz-Filmen zu sehen. Als Ermittler traten neben Heinz Engelmann beispielsweise Hellmut Lange, Rudolf Platte, Wolfgang Völz, Eddi Arent und Paul Edwin Roth auf. Filmemacher Roland engagierte wiederholt auch Schauspieler des Hamburger Ohnsorg-Theaters. Sänger Freddy Quinn hatte einen Auftritt in der Folge "Die Tote im Hafenbecken" aus dem Jahr 1958. Roland hatte den jungen Quinn entdeckt, als der in der "Washington Bar" in St. Pauli sang.
Neue Folgen von 1999 bis 2003
Die frühen Stahlnetz-Folgen haben Jürgen Roland später nicht mehr sonderlich gefallen: Sie seien zu betulich inszeniert und zu langsam geschnitten. Aber der Filmemacher sagte auch: "Es gibt keinen einzigen Film von mir, von dem ich sagen würde: Es wäre schön, wenn der in einem Archiv liegen würde, und sie finden den Schlüssel für das Zimmer nicht mehr." 1968 lief die vorerst letzte Folge. Drei Jahrzehnte später erlebte die Serie eine "Wiedergeburt": Von 1999 bis 2003 wurden sechs neue Stahlnetz-Folgen gedreht. Dieses Mal in Farbe. Das Prinzip blieb gleich: Wahre Kriminalfälle wurden möglichst realitätsnah verfilmt. Die Drehbücher für die ersten beiden neuen Folgen schrieb die Tochter von Jürgen Roland. Auch Wolfgang Menge, der damals die ersten zwanzig Stahlnetz-Folgen geschrieben hatte, war um die Jahrtausendwende zeitweise mit dabei - wenn auch nur als Berater.
Den neuen Stahlnetz-Folgen war kein so großer Erfolg beschert wie den frühen Stahlnetz-Filmen. An die Traum-Einschaltquoten der Folgen aus den 50er- und frühen 60er-Jahren konnten sie ohnehin nicht herankommen. Jürgen Roland meinte zu den Quoten von damals: "Man darf nicht vergessen: Um 1960 herum gab es nur einen Sender, das Erste Programm. Die Leute hatten, um es mal böse zu sagen, keine Alternative." Die Stahlnetz-Fans stört das nicht. Sie halten die Serie für eine der besten, die je im deutschen Fernsehen lief.