Polizeiruf 110: Vom DDR-Krimi zum gesamtdeutschen Liebling
Sandmännchen, Visite, Polizeiruf 110: Nur drei Sendungen des DDR-Fernsehens überlebten das Ende des Staatsfunks. Nun sind sie beliebte TV-Klassiker. Dass der am 27. Juni 1971 erstmals ausgestrahlte Polizeiruf dazugehört, überrascht nur auf den ersten Blick.
Tiefgefroren auf -4 Grad Celsius: Im Keller des Deutschen Rundfunkarchivs (DRA) in Potsdam-Babelsberg liegen bei dauerhaft eisiger Kälte mehr als 35.000 Sendestunden des DDR-Fernsehens. Darunter auch 18 Film-Büchsen mit der Aufschrift "Der Fall Lisa Murnau". Der Fernseh-Krimi war der Auftakt der Sendereihe Polizeiruf 110, erstmals ausgestrahlt im DFF am 27. Juni 1971.
"Der Fall Lisa Murnau": Doppelter Coup im DDR-Fernsehen
Oberleutnant Peter Fuchs und Leutnant Vera Arndt ermitteln darin in Sachen brutaler Raubüberfall. 70.000 Mark wurden aus dem Tresor einer Postfiliale gestohlen, eine Angestellte liegt bewusstlos auf dem Boden. Die beiden Volkspolizisten schließen den Fall gleich doppelt erfolgreich ab: Zum einen schnappen sie den Täter, zum anderen erobern sie das Fernsehpublikum im Sturm. Der Polizeiruf wird zu einer der beliebtesten Sendereihen des DDR-Fernsehens. Die Einschaltquoten liegen bei bis zu 60 Prozent.
Polizeiruf-Paten: Tatort und Honecker
Dass der Polizeiruf überhaupt über die Mattscheiben flimmern konnte, hatte zwei Ursachen, sagt Eberhard Görner. Der Autor und Dramaturg ist einer der Erfinder des Polizeirufs. Er wirkte an über 40 Filmen mit. "Das war eine Antwort auf eine Forderung von Honecker an das Fernsehen. Und gleichzeitig war es ein Kontrapunkt zum Tatort." Tatsächlich mokiert sich Erich Honecker kurz vor dem Start der Krimi-Reihe Polizeiruf 110 über das Programm des DDR-Fernsehens. Er verspüre beim Programm des Sendezentrums in Berlin-Adlershof eine "gewisse Langeweile", lästert der Staats- und Parteichef auf dem VIII. Parteitag der SED 1971. Honeckers Forderung: mehr Unterhaltung. Die holen sich DDR-Bürger damals eher im West-Fernsehen. Bis auf wenige Regionen um Greifswald und Dresden sind ARD und ZDF überall zu empfangen. Der gerade erst auf Sendung gegangene Tatort findet deshalb auch im Osten sein Publikum.
Kriminalität im Sozialismus?
Der Polizeiruf ist zwar eine Antwort auf den Tatort - aber nicht die erste Krimireihe im DDR-Fernsehen. Schon die zwischen 1959 und 1968 produzierte Serie "Blaulicht" - ein Pendant zum Stahlnetz in der Bundesrepublik - war ein Straßenfeger, zudem gab es die Reihe "Harras, der Polizeihund". Erzählt werden darin meist reale Fälle - eigentlich ein "Problem", denn Verbrechen konnte und sollte es in der sozialistischen Gesellschaft nicht mehr geben. Die politische Theorie dahinter wird in einem Amnestie-Beschluss des DDR-Staatsrates von 1960 deutlich: "In steigendem Maße werden die Reste des egoistischen, menschenfeindlichen Denkens und Handelns aus der kapitalistischen Gesellschaft überwunden und neue sozialistische Beziehungen der Menschen untereinander entwickelt." Verbrechen und die Beschäftigung mit ihnen - so der große Plan - seien schon bald obsolet.
Im Namen der Staatsideologie: Böser Westen, guter Osten
Doch die Theorie ist grau und geht nicht auf. Ein Jahrzehnt später gibt es in der DDR noch immer kriminelle Vergehen. Der Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit wird - wie so vieles im real existierenden Sozialismus - dialektisch gelöst. Durch Propaganda. Zum Beispiel in einer Fernsehdiskussion im August 1971. Kurz nach dem Start des Polizeirufs sitzen vier Herren mit Partei-Abzeichen im Adlershofer Sendestudio und erklären den Zuschauern die Welt. Sie sind sich weitgehend einig: Im Westen sei die Lage schlimm, das Leben im Prinzip unerträglich. Kriminalität und Drogensucht würden den Alltag bestimmen. Nur scheinbar abwägend erläutert Karl-Eduard von Schnitzler, Chef-Kommentator des DDR-Fernsehens: "Ich glaube, wir sollten uns vor einer Sache hüten: Schwarz-Weiß-Malerei. Bei uns gibt es noch Verbrechen - trotz unserer Gesellschaftsordnung. In Westdeutschland gibt es eine Verbrechensexplosion - wegen der Gesellschaftsordnung." In diesem ideologischen Umfeld startet der Polizeiruf.
Die perfekte Volkspolizei - Propaganda als Idee
Auch er soll künftig einen Beitrag zum Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft leisten. Das geht zumindest aus dem Grundkonzept der Reihe hervor, das im DRA in Potsdam-Babelsberg erhalten geblieben ist: "Durch die künstlerische Darstellung des humanistischen Charakters der den Interessen der Arbeiterklasse treu ergebenen Kriminalisten trägt die Reihe dazu bei, dem Zuschauer das Gefühl zu vermitteln, in einem stabilen Staat zu leben, in einer gesicherten Ordnung und in einer Gesellschaft des Rechts und der Gerechtigkeit." Neben diesem ideologischen Ballast findet sich aber auch der Anspruch, echtes Kriminal-Geschehen der DDR zu zeigen. Selbst Raub oder Mord darf es geben - wenn die perfekte Aufklärungsarbeit der Volkspolizei gezeigt wird.
Kritischer Spiegel der DDR-Gesellschaft - Realität als Ergebnis
Propaganda produzieren? Oder gute Filme? Für Eberhard Görner war das keine Frage: "Ich denke, wir haben die Probleme, die die DDR hatte, beim Namen genannt und wir hatten nicht das Gefühl, dass wir da Geschichten erzählen, die mit der Realität nichts zu tun haben." Vor allem in den 1980er-Jahren entwickelt sich die Polizeiruf-Reihe zu einem kritischen Spiegelbild der DDR-Gesellschaft. Es werden Dinge thematisiert, die sonst eher tabu sind.
"Kann man das noch erzählen?"
"Von Film zu Film wurden die Geschichten, die wir da gefunden oder erfunden hatten, realistischer, spannender, psychologischer, auch kritischer, was gesellschaftliche Probleme anbelangt", sagt Görner. Für ihn und die anderen Polizeiruf-Autor*innen bedeutet die Arbeit damals ein ständiges Ausloten von Grenzen: "Kann man noch einen Schritt weitergehen? Kann man das noch erzählen? Oder kann man das nicht erzählen?" Eine direkte Zensur habe es nicht gegeben - auch wenn seinerzeit alle Drehbücher dem Ministerium des Inneren vorgelegt werden müssen.
DDR-Ministerium des Inneren prüft Polizeiruf-Drehbücher
Dort prüfen Kriminalbeamte die Skripte auf Plausibilität und schicken den Fernseh-Machern sogenannte Meinungsäußerungen zurück. "Stimmt die Abfolge? Stimmt die Bewaffnung? Die Funkausrüstung, die Antennen an den Fahrzeugen? Stimmt die Ausdrucksweise der Volkspolizisten?" Dazu habe es die meisten Anmerkungen gegeben, sagt Jörg-Uwe Fischer vom DRA, das gehe aus den vollständig erhaltenen Produktionsunterlagen aller 153 Polizeiruf-Folgen aus DDR-Zeiten hervor. "In einem Drehbuch stand beispielsweise die Begrüßung 'Hey, Boss!'. Das wurde dann korrigiert. Es heißt nicht Boss, sondern Genosse Major." Penibel wird auf das vermittelte Bild der Polizei geachtet. Die Volkspolizisten im Polizeiruf müssen immer makellos sein, dürfen nicht rauchen und selten schießen. Als Gegenleistung erhält das DDR-Fernsehen kostenlose Amtshilfe. "Die haben alles zur Verfügung gestellt, egal, ob das jetzt Motorfahrzeuge, Hubschrauber, Mannschaftswagen oder Polizeiketten waren", erinnert sich Eberhard Görner.
Polizeiruf mit der Wende vor dem Aus
Stralsund, Wismar, Rostock oder Sassnitz: 23 von 153 DDR-Folgen spielen in den Nordbezirken. Doch mit dem Ende der DDR kommt auch das Aus für das Staatsfernsehen und den Publikumserfolg Polizeiruf. Das sei eine Tragödie gewesen, sagt Görner: "Wir waren beim Fernsehen 6.000 Mitarbeiter. Die wurden alle in die Wüste geschickt. Für die Kollegen war das ein absoluter Existenzkampf, irgendwo wieder Fuß zu fassen." Er selbst meistert die Situation, realisiert Dokumentarfilme und schreibt weiter Drehbücher - unter anderem für die große ARD-Produktion "Nikolaikirche" und den Volker-Schlöndorff-Film "Der neunte Tag".
Der Polizeiruf feiert 1993 sein Comeback
Auch dem Polizeiruf 110 gelingt ein Comeback. Weil Wiederholungen der alten Folgen mit großem Erfolg auf 3sat und in den Dritten Programmen der ARD laufen, lassen ORB und SFB 1993 neue Filme produzieren. Ein paar Monate später steigt auch der NDR in den Polizeiruf ein - mit einem eigenen Ermittler-Team in Schwerin.