St. Michaelis - Die "Gottesburg" von Hildesheim
Die Hildesheimer Michaeliskirche ist der bedeutendste romanische Bau nördlich der Alpen und Weltkulturerbe. Nach gründlicher Renovierung von 2005 bis 2010 sieht sie heute wieder so aus wie vor 1.000 Jahren.
Die Geschichte der Michaeliskirche beginnt nicht erst mit ihrer Grundsteinlegung am 15. Januar 1010, sondern 993. In einer feierlichen Zeremonie erhielt Bernward von Hildesheim vom Mainzer Erzbischof Willigis die Bischofsweihe. Und Kaiser Otto III. schenkte ihm aus diesem Anlass einen Splitter des Heiligen Kreuzes - zum Dank dafür, dass Bernward ihn erzogen hatte. Für diese Reliquie, das Bernwardkreuz, ließ der Bischof eine Kapelle bauen, die er 996 einweihte.
Später wollte er ein Kloster errichten. In der Vita Bernwardi heißt es dazu: "Im nördlichen Teil der Stadt Hildesheim gründete er auf unwirtlichem Gelände, das nur von Tieren und Ungeziefer bewohnt war, voller Hingabe und mit dem nötigen Aufwand ein Kloster."
Ein Bauwerk zum Dank an Gott
Bischof Bernward selbst stammte aus sächsischem Hochadel und war deshalb mit den Ottonen, den sächsischen Kaisern, verwandt. Nach seiner Ausbildung an der Hildesheimer Domschule gelangte Bernward mit 17 an den Hof Ottos II., wo er als Erzieher und Gelehrter wirkte. Auf Reisen durch Europa studierte er die frühromanische Architektur monumentaler Bauten, insbesondere in Rom und Konstantinopel. Auf Basis dieses Wissens schuf er mit St. Michael ein Meisterwerk, das stilbildend für die nächsten 200 Jahre sein sollte. "Ich Bernward, durch Gottes Erwählung, nicht aus eigenem Verdienst Bischof, habe lange darüber nachgedacht, durch welche Baukunst [...] ich mir den Himmel verdienen könnte." Bernward selbst entwarf die Konzeption der Kirche. Als Bauherren betätigten sich Mönche aus dem Kloster St. Pantaleon in Köln, denn sie waren diejenigen, die zur damaligen Zeit über architektonisches Wissen verfügten. Laut einer Überlieferung begann der Bau um 1001.
Paradebeispiel ottonischer Baukunst
St. Michaelis gilt als Prototyp einer ottonischen Basilika und ist der älteste erhaltene Bau seiner Art. Charakteristisch sind die vielen baulichen Neuerungen, die Bernward dem Baustil der Gotik des 12. Jahrhunderts vorwegnahm, wie die mathematische Ordnung in der Architektur. Das betraf zum einen die Größe von über 70 Metern Länge, zum anderen sorgten Säulen und Nischen für eine ganz neue Gliederung der Wände. Das Langhaus, doppelt so hoch wie breit, erstreckt sich gen Himmel - entsprechend der Lobpreisung "Gloria in excelsis deo" ("Ehre sei Gott in der Höhe"). Auffallend sind die klaren, geometrischen Formen des Quaderbaus. Er ist von Symmetrie geprägt, nur die beiden Choranlagen unterscheiden sich. Im Osten befindet sich ein schmaler Vorchor und im Westen ein ganzes Joch mit Unterkirche und Mönchschor.
Bauen nach Zahlen
Maß und Zahl spielten beim "bernwardinischen Baustil" eine wichtige Rolle, denn nach einer Weisheit Salomos ordnete Gott die Welt nach Zahl, Maß und Gewicht. Bernward übertrug die mathematischen Regeln der göttlichen Schöpfung auf die Architektur. Dazu gehört die sogenannte Vierung. Damit ist im Kirchenbau das Quadrat gemeint, das Mittelschiff (Langhaus), Chor und die Querhäuser trennt und aufteilt. Zwei Vierungstürme entsprechen je zwei oktogonalen Rundtürmen, die den Querschiffen vorgelagert wurden. Der ganze Bau vermittelte dadurch einen burgartigen Eindruck. Deshalb wird die Michaeliskirche auch als "Gottesburg" bezeichnet. Denn die Burg symbolisiert Gott, der für Festung und Retter in Zeiten der Not steht. Dieser Gedanke drückt sich auch im Psalm 18 aus, einem geistlichen Lied in der christlichen Bibel: "Herr, du mein Fels, meine Burg, mein Retter, mein Gott, meine Feste, in der ich mich berge, mein Schild und sicheres Heil, meine Zuflucht."
Denkmal für den Erzengel Michael
Der Name Michaeliskirche rührt her von der Michaelisverehrung, die unter den Ottonen ihren Höhepunkt erreichte. Der Erzengel Michael war der Anführer der Himmlischen Heerscharen und Schutzpatron des Heiligen Römischen Reiches. Er gilt als Verteidiger gegen die Mächte der Finsternis. Bernward baute dem Erzengel ein Denkmal - die Kirche erinnert aber auch an den Bischof selbst. So plante er beim Bau der Basilika bereits seine eigene Grabstätte in der Krypta (Unterkirche) im Westteil. Dieser Bereich galt zur damaligen Zeit als Ort der Dämonen. Über der Krypta ließ er den Mönchschor errichten, damit ihm hier ein "fürbittendes Gebet" gesprochen werden konnte. Am 29. September 1015, dem Michaelistag, weihte Bernward die Unterkirche ein. Am 20. November 1022 verstarb er im Michaeliskloster und fand in der Krypta seine letzte Ruhe. Erst elf Jahre später erfolgte die endgültige Weihe der Kirche durch Bernwards Nachfolger Godehard.
Ausrichtung nach Osten
Das Zentrum und der theologische Mittelpunkt der Kirche lagen im Osten. Denn die Menschen beteten nach Osten in Richtung der aufgehenden Sonne. Alle Altäre sind deshalb gen Osten ausgerichtet. Der Kreuzaltar, der den Mittelpunkt der Kirche bildete, ist heute nicht mehr erhalten. Auf dem Altar stand einst das Bernwardkreuz mit der Kreuzreliquie, das heute im Dom-Museum zu besichtigen ist.
Zahlenmystik und Engelsymbolik
Die geometrische Ordnung setzte sich im Inneren der Kirche fort. Die damalige Landesbischöfin Margot Käßmann bekannte in der Festschrift: "Immer wieder fasziniert mich, in welcher Weise in dieser Kirche die Symbolsprache des Glaubens durch die Architektur ausgedrückt wird - etwa durch die sich wiederholende Zahl 3 für die Trinität oder die Zahl 9 für die Himmelschöre." Bernward ließ neun Engelskapellen bauen, weil die Himmelsgeschöpfe in neun Kategorien aufgeteilt wurden. Auch auf seinem Sarkophag befinden sich neun Engel-Embleme. Darüber hinaus setzt sich die Kirche aus neun Quadraten zusammen. Das Quadrat und damit die Zahl 4 spielt in der christlich-mittelalterlichen Zahlenmystik ebenfalls eine entscheidende Rolle. Vier ist die Zahl des Kreuzes, der Totalität und Vollkommenheit, und lässt die Räume harmonisch wirken.
St. Michaelis: Wechselvolle Geschichte
Nach der Reformation 1542 wurde die Michaeliskirche evangelische Pfarrkirche - mit Ausnahme der Bernwardskrypta. Sie ist bis heute katholisch. Die vielen Jahrhunderte gingen nicht spurlos an dem Gotteshaus vorbei: Immer wieder stürzten Türme ein und mit Beginn der Säkularisation nutzte der Staat die Kirche für fremde Zwecke. So lagerten dort Anfang des 19. Jahrhunderts Heu und Stroh. Ab 1855 war das Gebäude wieder im Besitz der evangelischen Kirche und wurde umfassend renoviert. Am 22. März 1945 zerstörten Bomben die gesamte Anlage. Die monumentale Bilddecke, die um 1225 entstand, war vorher eingelagert worden und überstand den Krieg unversehrt. Sie zeigt den sogenannten Jessebaum, den Stammbaum Christi, angefangen bei der Geschichte von Adam und Eva. Auch die Engelschorschranke wurde nicht beschädigt, weil sie eingemauert worden war.
Bereits 1950 begann der Wiederaufbau der Kirche, zehn Jahre später erfolgte die Weihe, 1985 ernannte die UNESCO St. Michaelis gemeinsam mit dem Hildesheimer Dom zum Weltkulturerbe. Die Holzdecke, die in ihrer Art nahezu einzigartig in Europa ist, sowie Alter und Schönheit der Kirche waren dafür ausschlaggebend.
Umfassende Sanierung im 21. Jahrhundert
Von 2005 bis 2010, dem Jahr des 1.000. Kirchenjubiläums, wurde der Innenraum von St. Michaelis aufwendig renoviert. Unter anderem erhielt der Sandsteinboden seine historische Originalhöhe zurück, 15 Zentimeter tiefer als zuletzt. 2011 begannen Sanierungsarbeiten an der Fassade. Dabei entdeckten Arbeiter unter dem Putz original romanische Bögen und legten sie frei. Ende 2012 waren die Bauarbeiten, die zehn Millionen Euro kosteten, nach insgesamt sieben Jahren abgeschlossen. Die Kirche sieht nun wieder so aus, wie Bernward sie 1010 geplant hat.