"Mein Bauch gehört mir": Die Neue Frauenbewegung in den 70ern
Aktionen gegen das Abtreibungsverbot des § 218 werden in den 1970er-Jahren zum Ausgangspunkt der Neuen Frauenbewegung. Es geht um Gleichberechtigung in Beruf und Gesellschaft. Eine feministische Gegenkultur entsteht.
"Es war ein tolles Gefühl, plötzlich eine Stimme zu haben - eine Stimme mit vielen anderen Frauen - und in der Öffentlichkeit auftreten zu können", erinnert sich Angelika Henschel an die Anfänge der Neuen Frauenbewegung in den 70er-Jahren. Schon in ihrer Schulzeit in Lüneburg hat sie sich für andere Frauen eingesetzt, und die Erfahrungen, die sie dabei machte, hätten sie geprägt, sagt die Professorin für Sozialpädagogik mit einem Schwerpunkt in der Genderforschung: "Also ich habe dadurch sicherlich auch meine Stärke gezogen zum Beispiel in Bezug auf meine eigene Biografie und in Bezug auf meine berufliche Entwicklung."
Tomatenwurf wird zur Geburtsstunde der Bewegung
In der Studentenbewegung der 60er-Jahre war viel von Emanzipation und Befreiung die Rede, aber es waren Männer, die das große Wort führten. Als Helke Sander vom "Aktionsrat zur Befreiung der Frau" beim SDS-Kongress 1968 die Ausbeutung der Frau im privaten Bereich anprangerte, waren die Männer des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) nicht bereit, darüber zu diskutieren. Die Romanistik-Studentin Sigrid Rüger warf daraufhin Tomaten auf die Bühne: eine symbolische Geste, die als Beginn der Neuen Frauenbewegung in Deutschland gilt.
"Das Private ist politisch"
Die Frauen merkten, dass es nicht genügte, dass die Erste Frauenbewegung das Wahlrecht erkämpft hatte und im Grundgesetz stand: "Männer und Frauen sind gleichberechtigt." Es ging darum, was das in ihrem Alltag bedeutete, in dem sie oft noch diskriminiert und ausgegrenzt wurden, sagt Angelika Henschel: "Das war ja der Slogan der zweiten Frauenbewegung: Das Private ist politisch."
Kampf gegen § 218 erzeugt Macht des Kollektivs
Greifbar wurde das für eine breite Öffentlichkeit im Kampf gegen den Abtreibungsparagrafen 218. Am 6. Juni 1971 bekennen 374 deutsche Frauen im Magazin "Stern": "Wir haben abgetrieben!". Die Aktion nach einem französischen Vorbild war von der Journalistin Alice Schwarzer organisiert worden und hatte prominente Unterzeichnerinnen wie die Schauspielerinnen Romy Schneider oder Senta Berger.
Bei einem Verstoß gegen das Abtreibungsverbot des § 218 drohten bis zu fünf Jahre Gefängnis. Aber die "Stern"-Aktion bleibt für die meisten beteiligten Frauen folgenlos: Hier zeigt sich die Kraft des Kollektivs, das die einzelnen Frauen schützt. Hunderte weitere Selbstanzeigen folgen, 86.000 Solidaritätsunterschriften werden an den Bundesjustizminister übergeben und es kommt zu Massendemonstrationen mit dem Slogan "Mein Bauch gehört mir". Denn die Angst, ungewollt schwanger zu werden, kannten die meisten in einer Zeit, in der die Pille in der Bundesrepublik oft nur an verheiratete Frauen abgegeben wurde.
Für legale Abtreibungen ins Ausland
In der DDR wurde im März 1972 für Abtreibungen eine Fristenlösung bis zur zwölften Schwangerschaftswoche eingeführt. Eine entsprechende Regelung in der Bundesrepublik wurde vom Bundesverfassungsgericht zurückgewiesen. Hier einigten sich die politischen im Juni 1976 auf ein Indikationenmodell, also die Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruchs unter bestimmten medizinischen, psychischen oder sozialen Voraussetzungen. Für die Frauen war das Thema damit aber nicht automatisch erledigt, erzählt Angelika Henschel: "Wir haben dann mitbekommen, dass die ersten Busse nach Holland fuhren, nach Großbritannien, nach London, um den Frauen, die hier in der Bundesrepublik nicht die Möglichkeit hatten, Abtreibungen legal durchführen zu lassen." Frauengruppen halfen, solche Reisen zu organisieren.
Vergewaltigung in der Ehe bleibt bis 1997 straffrei
Der Kampf gegen den § 218 war ein großes Thema der Frauenbewegung - ein anderes war die Gewalt gegen Frauen, die bis dahin kaum öffentlich thematisiert worden war. Frauen hatten damals kaum eine Chance, sich gegen innerfamiliäre Gewalt zu wehren. Während des Bestehens der Ehe waren sie weitgehend rechtlos gegenüber dem Mann. Bei einer Scheidung bestand die Gefahr, dass ihnen das Sorgerecht für die Kinder entzogen wurde, wenn sie die Gewalttätigkeit des Mannes nicht durch Zeugen beweisen oder durch Verletzungen dokumentieren konnten.
Dabei ging es nicht um wenige Einzelfälle, berichtet Angelika Henschel, die zusammen mit anderen 1977 den Verein "Frauen helfen Frauen Lübeck" gründete und in ihrer Heimatstadt ein Frauenhaus schuf, in dem Frauen und ihre Kinder Zuflucht vor der Gewalt finden konnten: "Ich erinnere Szenen, wie viele alte Frauen an unsere Info-Tische gekommen sind und gesagt haben: 'Wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte, irgendwohin zu fliehen, wäre ich weg gewesen. So habe ich jetzt bis ins hohe Alter die Gewalt meines Mannes erfahren müssen.'" Es hat dann noch bis 1997 gedauert, bis Vergewaltigung in der Ehe als Verbrechen klassifiziert wurde. Ein anderes Ziel erreichte die Frauenbewegung schneller: 1977 wurde das Schuldprinzip bei Scheidungen aufgehoben.
Feministische Gegenkultur von Frauenzentren bis "Emma"
Die Bildung von Frauen wurde besser, die Frauen heirateten später, mehr Frauen wurden berufstätig. Vor allem aber veränderte sich das Selbstbild der Frauen. Die Frauen definierten sich nicht mehr primär durch ihre Beziehung zu Männern. Sie interessierten sich für die Geschichte der Frauen. Sie lasen Literatur, die sich mit der Rolle der Frau auseinandersetzen. Es bildete sich eine feministische Gegenkultur heraus: mit Frauenbuchläden, Frauencafés und Frauenzentren. Im Januar 1977 erschien erstmals das feministische Magazin "Emma". Auch die Lesbenbewegung bildete sich Anfang der 70er-Jahre und wurde in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts in der Frauenbewegung sichtbarer.
Die Männer reagierten unterschiedlich. Angelika Henschel erzählt, dass es Männer gab, die sie unterstützten - etwa bei der Renovierung des Frauenhauses. Sie hätten aber auch eine ganze Menge Anfeindungen erlebt: "Wir wurden als Scheiß-Emanzen bezeichnet, um diesen Ausdruck mal zu benutzen. Die auf die Straße gehen, weil sie keinen abgekriegt haben, keinen Mann abgekriegt haben."
Heutige Selbstverständlichkeiten wurden hart erkämpft
Ein halbes Jahrhundert später sitzen nach wie vor weniger Frauen in den Parlamenten und in den Führungsetagen der großen Unternehmen; nach wie vor verdienen Frauen weniger als Männer; nach wie vor gibt es in vielen Familien eine Arbeitsteilung zu Lasten der Frauen. Angelika Henschel sagt, dass sie nicht erwartet hätte, dass manche Anliegen von damals wie die sexuelle Belästigung von Frauen jetzt noch immer ein Thema sein würden. "Also zum Beispiel die ganze MeToo-Debatte, das sind Debatten, die wir schon in den 70er-Jahren geführt hatten. Wir hatten nur nicht die Medien zur Verfügung, um eine solche Öffentlichkeit zu erzeugen, wie das heute der Fall ist."
Sie sieht auch das, was erreicht wurde: "Dass Frauen ganz selbstverständlich einer Erwerbstätigkeit nachgehen, dass sie akademische Abschlüsse haben, dass sie in Bezug auf Gewalt und Selbstbestimmung über ihren Körper heutzutage andere Möglichkeiten haben als damals" - vieles, was jungen Menschen heute selbstverständlich erscheint, sei durch die Frauenbewegung hart erkämpft worden.