Das Kalkbergstadion: Von der NS-Stätte zum Karl-May-Theater
Die Karl-May-Spiele in Bad Segeberg, wer kennt sie nicht? Hunderttausende Besucher pilgern seit dem 16. August 1952 jährlich in das Kalkbergstadion, um die Geschichten rund um den Apachen-Häuptling Winnetou und seinen Blutsbruder Old Shatterhand zu sehen. Die Vergangenheit des Stadions insbesondere während der NS-Zeit ist dagegen vielen unbekannt.
Vom Gips-Abbau zur "Thingstätte"
Viele Jahrhunderte lebt Segeberg - das "Bad" trägt die Kleinstadt erst seit 1924 im Namen - vom Gips-Abbau. Mehr als eine Million Kubikmeter werden hier bis ins 19. Jahrhundert abgebaut. Denn der Kalkberg besteht nicht etwa aus Kalkstein, sondern an der Oberfläche aus Gips. Ursprünglich 110 Meter hoch schrumpft er durch den Abbau auf 91 Meter. 1931 wird die Grube geschlossen - das Mineral aus Lüneburg ist qualitativ besser, die Förderung in Segeberg nicht mehr lukrativ. Die Stadt liegt brach, bis der Bürgermeister Jahre später einen Pakt mit den Nazis schließt. Aus der einstigen Tagebaugrube soll eine Thingstätte für germanischen Kult werden.
In ganz Deutschland sollen nach Plänen der Nationalsozialisten insgesamt 400 solcher Versammlungsplätze entstehen. Am Ende werden nicht einmal zehn gebaut. Zwischen Bad Segeberg und Haithabu bei Schleswig habe es damals einen regelrechten Standort-Wettbewerb um den Versammlungsplatz gegeben, so der Bad Segeberger Historiker und Buchautor Hans-Peter Sparr: "Der damalige Bürgermeister Jeran schickte den Entwurf sofort nach Berlin, um einer der ersten damit zu sein." Mit der Entscheidung für Bad Segeberg fällt am 27. Mai 1934 der Startschuss für umfangreiche Bauarbeiten am Kalkberg.
Drei Jahre Bauzeit für Propaganda-Arena der NSDAP
Innerhalb von zwei Jahren soll der Reichsarbeitsdienst dafür sorgen, dass aus einer öden Stätte durch viel Muskelkraft die Propaganda-Arena der NSDAP wird. Die Arbeiter kämpfen dabei immer wieder mit Problemen. So sollen die Sitzreihen im Gestein befestigt werden. Das klappt aber nicht: Da der Kalkberg ein Gipsberg ist und sich Gips in Wasser auflöst, halten die Sitzflächen nur bis zum nächsten großen Regenschauer. Teurer Granit aus Schlesien wird geordert. Auf den Kosten bleibt die Stadt Bad Segeberg sitzen, die versprochenen Zuschüsse aus Berlin kommen nicht. So zieht sich der Bau in die Länge.
"Nordmark-Feierstätte" wird kaum genutzt
Reichspropagandaminister Joseph Goebbels weiht die "Nordmark-Feierstätte" in Segeberg schließlich am 10. Oktober 1937 feierlich ein. Die Wochenschau berichtet damals von 20.000 Zuschauern, von Jubel und "Heil Hitler"-Rufen bei der Eröffnung des neuen Amphitheaters. Doch große Aufführungen gibt es nach Eröffnung der Arena nur wenige. Nach Kriegsbeginn wird das Stadion vereinzelt von der Hitlerjugend für Versammlungen und Fahnenweihen genutzt. Am 8. Mai 1945 ist damit endgültig Schluss, die Briten als Besatzungsmacht feiern dort den Sieg über das Nazi-Regime.
Kalkbergstadion zeigt sein Potenzial nach dem Krieg
Doch das Stadion bleibt nicht lange leer. Am 6. Oktober 1945 findet am Kalkberg eine der ersten großen Boxveranstaltungen nach dem Krieg statt. Sportidol Max Schmeling ist als Ringrichter im Einsatz und lockt mehr als 12.000 Zuschauer an. Das Kalkbergstadion erweist sich als hervorragender Veranstaltungsort.
1952 erobert Winnetou den Kalkberg
Schon bald stellt sich die Frage, wie es sich dauerhaft nutzen lässt, um die Wirtschaft in Bad Segeberg anzukurbeln und Touristen in die Stadt zu holen. Seit Anfang der 50er-Jahre geben sich die Helden der Kindheit - Winnetou, Old Shatterhand, Kara Ben Nemsi und viele andere - auf dem Kalkberg ein Stelldichein: Vom 16. August bis zum 9. September 1952 finden in Bad Segeberg in enger Zusammenarbeit mit dem Karl-May-Verlag in Bamberg die ersten Karl-May-Spiele statt. Damals noch unter dem Namen Winnetou-Festspiele und als Sieger eines Konkurrenzkampfes mit einer Hamburger Theatergruppe, die in dem Freilichttheater die Nibelungen-Sage zur Aufführung bringen wollte.
In der Hauptrolle als Winnetou im gleichnamigen Stück: Hans-Jürgen Stumpf. Neben anderen Profi-Schauspielern wie Hans-Joachim Kilburger als Old Shatterhand engagieren sich auch viele Bad Segeberger in Statisten-Rollen - und bei der Herstellung von Kostümen und Kulisse: Perücken werden aus Hanf geknüpft und schwarz eingefärbt, Perlen Stück für Stück aufgefädelt und Requisiten gebaut. Die Mühe lohnt sich: 98.400 Zuschauer besuchen die 15 Vorstellungen, je nach Platz liegen die Eintrittskarten zwischen 50 Pfennig und zwei Mark.
Aus Winnetou-Festspielen werden die Karl-May-Spiele
Nach dem großen Erfolg steht für den Intendanten Robert Ludwig schnell fest, dass es weitergehen muss. 1953 steht erneut "Winnetou" auf dem Spielplan. 1954 gibt es mit Wulf Leisner einen neuen künstlerischen Leiter - und das Festival firmiert fortan unter dem Namen Karl-May-Spiele. Inszeniert wird mit "Der Schatz im Silbersee" der wohl berühmteste Winnetou-Roman. Vom heutigen Action-Event mit gewaltigen Show-Effekten sind die Vorstellungen damals noch weit entfernt - aber das Publikum ist begeistert. Egal ob "Unter Geiern", "Der Ölprinz" oder "Die Felsenburg" auf dem Programm steht: In Jahr für Jahr größerer Zahl strömt das Publikum auf den Kalkberg, um sich in die Welt der Wild-West-Abenteuer entführen zu lassen.
Karl-May-Spiele werden zur DNA von Bad Segeberg
In Bad Segeberg herrscht Goldgräberstimmung: Nach und nach kurbeln die Spiele den Fremdenverkehr im neuen Eldorado der Cowboy- und Indianer-Szene wieder an. Das Wirtschaftswunder und die gestiegene Reiselust treiben die Besucherzahlen in immer neue Höhen. Aus der Idee von 1952 wird die DNA einer ganzen Stadt. Lokale Geschäfte mutieren zu Karl-May-Unternehmen. Die Seilerei Jürgens etwa sattelt von Fischereizubehör auf Wild-West-Utensilien um. Verkaufsbuden mit Bratwurst, Getränken und folkloristischen Accessoires haben ihren Markt gefunden.
Die Begeisterung für die Spiele bringt Hans-Werner Baurycza 2017 in der NDR Doku "Als Winnetou in den Norden kam" auf den Punkt. Er war von Anfang an mit dabei: "Es ist die Atmosphäre, hier zu sitzen und ein Teil der Sache zu sein. Ich reite dort mit Winnetou. Ich kämpfe für die Gerechtigkeit. Also dieser Traum, den Teil der Kindheit nochmal zu erleben - das ist das Geheimnis der Segeberger Spiele."
Wer nicht dabei ist, "hat Einmaliges versäumt"
Für Schauspieler wiederum wird es zunehmend zur Ehre, den Winnetou zu geben: 1988 heuert der legendäre Fernseh-Winnetou Pierre Brice in Bad Segeberg als Apachen-Häuptling an. Viermal in Folge kämpft er als Ober-Indianer für Frieden und Gerechtigkeit. Gojko Mitić, als Indianer-Darsteller in der DDR bekannt geworden, verkörpert Winnetou gar 15 Jahre lang. Wayne Carpendale, Patrick Bach, Erol Sander, Jan Sosniok und aktuell Alexander Klaws folgen. Aber auch die Nebenrollen werden durchaus prominent bestückt. "Wenn man Schauspieler geworden ist und nicht bei den Karl-May-Spielen in Bad Segeberg mitgewirkt hat, hat man etwas Einmaliges versäumt", sagt etwa Volker Brand, nachdem er 2006 eine Gastrolle übernommen hat.
Karl-May-Spiele trifft Vorwurf der kulturellen Aneignung
So sehr die Karl-May-Spiele bei Akteuren und Publikum gleichermaßen beliebt sind, hat es in den vergangenen Jahren doch auch Kritik gegeben. Im Raum stehen die Vorwürfe des Rassismus und der kulturellen Aneignung, sprich: eine Bereicherung an fremden ästhetischen Ressourcen, wobei die angeeigneten Kulturelemente oftmals so reproduziert werden, dass dabei Stereotype entstehen. So sei die Darstellung indigener Menschen bei den Spielen in Bad Segeberg nicht mehr zeitgemäß. Kritisiert wird in der aktuellen Saison auch, dass die Rolle des Winnetou mit Alexander Klaws von einem Weißen und etwa nicht von einer indigenen Person gespielt wird. Laut Klaws seien durchaus Menschen mit indigenem Hintergrund beim Casting gewesen. "Aber wahrscheinlich habe ich etwas gehabt, dass ich in dieser Rolle am überzeugendsten war. Ich bin Schauspieler und scheine diese Rolle auch zu tragen. Ich trage sie mit Demut und Stolz", so der Schauspieler gegenüber dem NDR.
"Red-Facing gibt es hier nicht"
Man bringe ja kein Geschichtsbuch auf die Bühne, sondern die Fantasie-Welt von Karl May, kontert die Geschäftsführerin der Spiele Ute Thienel im Interview mit dem NDR 2019 die Vorwürfe. Bei dem Punkt, in Bad Segeberg werde alles zu klischeehaft dargestellt, müsse man auch berücksichtigen, dass Werke von Karl May auf die Bühne gebracht werden. "Das stellt nicht die Realität in Nordamerika im 19. Jahrhundert dar. Das sind Märchen", so Thiel. Neben großartigen Shows würden dem Publikum im Übrigen auch Werte wie Toleranz, Völkerverständigung und der Umgang mit der Natur vermittelt. Die insbesondere in den USA geführte Debatte darüber, dass sich weiße Schauspieler mit Schminke in Native Americans verwandeln, wird in Bad Segeberg offenbar nicht geführt. Denn: "Red-Facing gibt es hier nicht", so Thiel. Die Schauspieler würden zwar ein bisschen geschminkt, "aber meistens sind hier durch die Probenarbeiten alle so braun, die brauchen gar nicht mehr so viel Maske im Gesicht."
Besucherrekorde für Karl-May-Spiele nach Corona-Zwangspause
Der Kritik zum Trotz geht es mit den Open-Air-Festspielen stetig aufwärts - 2019 besuchen mit 402.110 Zuschauern mehr Menschen als jemals zuvor die Karl-May-Spiele. Wie im restlichen Kulturbetrieb auch zwingt die Corona-Pandemie dann allerdings zur Zwangspause. 2020 fallen die Spiele ganz aus, 2021 gibt es nur ein abgespecktes Ersatzprogramm. 2022 und 2023 werden jeweils erneut Besucherrekorde aufgestellt. 406.925 bzw. 430.321 Zuschauer kommen an den Kalkberg.