"Atomkraft, nein danke!" - Der Sieg des langen Atems
In Brokdorf kommt es im November 1976 zu gewaltsamen Auseinandersetzungen an der Baustelle für das Atomkraftwerk. Der Streit zwischen Atomkraftgegnern und -befürwortern wird zu einem der beherrschenden Themen der nächsten Jahrzehnte.
"Ich glaube, unsere Stärke hier vor Ort war politisch gesehen, dass wir kontinuierlich am Ball geblieben sind. Und letztlich haben wir ja auch erreicht, dass keine AKWs mehr gebaut und sie jetzt auch abgeschaltet werden." Heinrich Voß blickt zufrieden zurück auf seinen Kampf gegen die Atomkraft, auch wenn er den Bau des AKW Brokdorf neben seinem Hof in Schleswig-Holstein nicht verhindern konnte. Seine Frau Christine Scheer beschreibt, was sie damals bewegt hat: "Der Widerstand war nicht von der Angst geprägt, sondern einfach von diesem Unrecht, wie hier mit uns umgesprungen wird."
Atomkraft als Lösung aller Energieprobleme?
"Atomkraft - ja bitte": Das war die Mehrheitsmeinung in den 60er- und Anfang der 70er-Jahre. Die friedliche Nutzung der Kernenergie versprach alle Energieprobleme der boomenden Industrienationen zu lösen. Es gab nur wenige, die vor den Folgen warnten. Im Juni 1961 ging das Kernkraftwerk Kahl als erstes kommerzielles AKW der Bundesrepublik ans Netz; in der DDR war es 1966 das Kernkraftwerk in Rheinsberg. Als die erste Ölpreiskrise im Westen das Bewusstsein dafür weckte, dass eine sichere und günstige Energieversorgung nicht selbstverständlich ist, schien die Kernenergie der ideale Ausweg. Das Vierte Atomprogramm der Bundesregierung vom Dezember 1973 sah daher einen massiven Ausbau in diesem Bereich vor.
Sorgen treiben in den Widerstand
Für Heinrich Voß begann 1973 seine persönliche Geschichte mit der Kernenergie: Die schleswig-holsteinische Landesregierung beschloss, an der Gemeindegrenze zwischen Brokdorf und Wewelsfleth - nur ein paar Hundert Meter entfernt von seinem Bauernhof - ein Atomkraftwerk zu bauen. "In beiden Gemeinden hat sich die Mehrheit der Leute eindeutig dagegen ausgesprochen", erinnert er sich. Er selbst fing an, sich in das Thema Kernenergie einzuarbeiten. Er hatte Angst - nicht nur vor einem möglichen Unfall, sondern auch vor einer möglichen Anreicherung der landwirtschaftlichen Produkte aus dem Umkreis des Kraftwerks mit schädlichen Stoffen.
Wyhl als Keimzelle der deutschen Anti-Atomkraft-Bewegung
Die Sorge der Bauern und Winzer um ihre Existenz stand auch am Anfang des Widerstands gegen ein Atomkraftwerk in Wyhl in Baden-Württemberg, der allgemein als die Geburtsstunde der deutschen Anti-Atomkraft-Bewegung gilt. Unterstützt von Studierenden der nahen Universität Freiburg besetzten sie am 18. Februar 1975 den Bauplatz für das AKW. Die Räumung durch die Polizei mit Wasserwerfern und Hundestaffeln führte zu bundesweiter Aufmerksamkeit. Doch die AKW-Gegner ließen sich nicht abschrecken: Sie bauten ein Hüttendorf, die baden-württembergische Landesregierung ließ sich auf Verhandlungen ein und stellte das AKW-Projekt 1994 endgültig ein.
Teilgenehmigung für AKW Brokdorf: "Ein absoluter Schock"
Die Gegner des AKW in Brokdorf fühlten sich durch den Widerstand in Wyhl gestärkt: "Auch anderswo passiert was, nicht nur hier bei uns. Ja, ein Solidaritätsgefühl, auf jeden Fall", sagt Heinrich Voß. Auf vielerlei Art kämpften sie. Mit Unterschriftenlisten. Mit wissenschaftlichen Erörterungen. Vor Gericht. Aber bei der schleswig-holsteinischen Landesregierung fanden die AKW-Gegner kein Gehör. Im Herbst 1976 eskalierte die Auseinandersetzung zwischen Staat und Atomkraftgegnern in Brokdorf.
Am 25. Oktober 1976 spricht die schleswig-holsteinische Landesregierung die erste atomrechtliche Teilgenehmigung für das Kernkraftwerk aus. In der Nacht zum 26. Oktober wird mit den Arbeiten begonnen. Heinrich Voß sagt, er sei fassungslos gewesen: "Der Bauplatz war abgesperrt. Aber wirklich als Nacht-und-Nebel-Aktion." Auch Christine Scheer fühlte sich überrumpelt: "Plötzlich war der Bauplatz besetzt vom Staat, und es ist einfach ein absoluter Schock gewesen, dass so ein Verhalten möglich ist.
Brokdorf wird zum "Symbol des Widerstands"
Am 30. Oktober findet die erste Großdemonstration gegen das AKW statt. In einem Bericht des Politmagazins Panorama werden die Ereignisse danach so geschildert: "6.000 Demonstranten sind zur Stelle. 800 überwinden Wassergräben und Stacheldraht und besetzen eine Ecke des Geländes. Dann: Wasserwerfer, Tränengas, die chemische Keule. Nach dem Zusammenstoß ist Brokdorf das, was die Staatsgewalt nicht wollte: Symbol des Widerstandes."
Die Bewachung des Baugeländes wird verstärkt. Der Bauplatz zu einer regelrechten Festung ausgebaut - mit Gräben, einer zwei Meter hohen Mauer mit Stahltoren und Spiralen aus NATO-Draht. Es gibt allerdings auch Befürworter des Kernkraftwerks - nicht nur in der Politik. Mitarbeiter der Kraftwerksfirma NWK demonstrieren für den Bau. Und auch in Brokdorf selbst gehen die Meinungen auseinander, wie Heinrich Voß fast 50 Jahre später erzählt: "Also meine Mutter hatte sehr drunter gelitten. Wenn sie zu den Landfrauen ging, wurde sie schief angeguckt, weil ihre Kinder so entschieden dagegen waren."
"Schlacht von Brokdorf" mit Tränengas und Wasserwerfern
Für den 13. November ruft die Bürgerinitiative Umweltschutz Unterelbe erneut zu einer Demonstration auf. Der Tag wird mit der sogenannten "Schlacht um Brokdorf" zum Inbegriff gewalttätiger Auseinandersetzungen, wie sie den Kampf um die Atomkraft in den nächsten Jahren an verschiedenen Orten in der Bundesrepublik kennzeichnen sollten. Christine Scheer erzählt, dass schon Tage vor der Demo Anspannung in der Luft lag - auf beiden Seiten: "Als mein Mann nachts aufstand, um ein Kalb zu greifen, und über den Hof ging und Licht anmachte, da kam kurze Zeit später ein Polizeiauto auf den Hof gefahren. Und wendete dann wieder, als hier nichts Spektakuläres passiert war außer Arbeit."
Am 13. November 1976 zeigt sich, dass die Anti-Atomkraft-Bewegung längst national und international verankert ist. Nicht nur aus anderen Teilen der Bundesrepublik, sondern auch aus Dänemark oder den Niederlanden reisen Demonstrierende an. Obwohl die Polizei das Gelände weiträumig abgeriegelt hat, kommen zwischen 25.000 und 30.000 an die Baustelle. Etwa 3.000 Aktivisten versuchen trotz der Befestigungen, den Bauplatz zu besetzen. Mit Tränengas und Wasserwerfern gehen Polizei und Bundesgrenzschutz gegen die Angreifer, aber auch gegen friedliche Demonstranten vor.
Doch so massiv die Polizei auch auftritt - viele Demonstranten lassen sich nicht einschüchtern. Panorama berichtet: "Am Abend kam es zu einer regelrechten Schlacht um das schwer befestigte Baugelände in Brokdorf. Mehrere Stunden versuchten einige Tausend Demonstranten, Mauer und Stacheldraht der NWK-Festung zu überwinden und den Bauplatz zu besetzen. Die Umweltschützer mit friedlichen Mitteln, diverse kommunistische Gruppen mit Wurfankern, Drahtscheren und Steinwürfen. Polizei und Grenzschutzeinheiten antworteten mit einem Dauerfeuer von Tränengasbomben, Wasserwerfern mit chemischer Beimengung und der chemischen Keule." Abends, als die meisten Demonstranten sich schon zurückgezogen haben, tritt die Polizei noch einmal massiv auf und räumt die Straßen der Umgebung. Um 21 Uhr können die Bauarbeiten weiter gehen.
Demo-Erfahrungen mit Folgen für das Verhältnis zum Staat
Für sie wurden die Erfahrungen bei den Demonstrationen in Brokdorf prägend für ihr Verhältnis zur Politik und dem Staat, in dem sie lebte, sagt Christine Scheer: "Wenn man sein Recht auf unversehrte Heimat wirklich kundtun will und dann konfrontiert wird mit Tränengas und Wasserwerfern - habe ich hier noch nie erlebt."
Im Dezember 1976 verhängt das Verwaltungsgericht Schleswig einen vorläufigen Baustopp, der 1977 verlängert wird. Begründet wird das mit einem mangelnden Entsorgungskonzept. 1981 hebt das Oberverwaltungsgericht Lüneburg den Baustopp auf, weil es Fortschritte beim Thema Entsorgung sieht. 1986 wird das AKW Brokdorf in Betrieb genommen.
Niederlage in Brokdorf - aber Sieg im Großen und Ganzen
1983 zieht Christine Scheer zu Heinrich Voß nach Brokdorf, obwohl direkt nebenan das AKW gebaut wird und sie und ihr Mann sich Sorgen machen, welche Folgen das für ihre Kinder haben könnte. Den Kampf gegen das AKW geben sie aber nicht auf, auch wenn er zermürbend ist. Seine Motivation beschreibt Heinrich Voß so: "Ich bin ein Indigener. Also diese Verwurzelung spielt glaube ich eine große Rolle."
35 Jahre leben sie schließlich neben dem AKW. Auf dem Hof wird es nicht mehr dunkel, weil die Atomanlage ständig beleuchtet wird. Aber eigene Messungen zeigen ihnen, dass sie keiner gefährlichen Strahlung ausgesetzt sind. Kinder und Enkel wachsen gesund auf. Und auch wenn sie den Kampf gegen den Bau des Kernkraftwerks in Brokdorf verloren haben - als Atomkraftgegner hätten sie am Ende ja doch gewonnen, betonen Heinrich Voß und Christine Scheer.