VIDEO: 1964: Versorgungsraketen in Sahlenburg gestartet (Ohne Sprecherton) (1 Min)

Als deutsche Forscher Raketen über dem Wattenmeer testeten

Stand: 23.09.2023 05:00 Uhr

Herbst 1958: In Cuxhaven startet eine Rakete 50 Kilometer hoch in die Atmosphäre. Sechs Jahre lang testen private Forscher dort verschiedene Systeme. Darunter sind auch Postraketen, die sich zu Touristenmagneten entwickeln.

Cuxhaven ist vor allem als Nordseebad an der Elbmündung bekannt. Zwischen 1957 und 1964 zieht es jedoch nicht nur Urlauber, sondern auch Wissenschaftler dorthin. Schon ab 1952 hat sich ein kleiner Verein um die Erlaubnis bemüht, im Wattenmeer bei Cuxhaven Raketen starten zu dürfen. Treibende Kraft der "Deutschen Agentur für Raumfahrtangelegenheiten", kurz DAFRA, ist der Raketentechniker Karl Poggensee. Er tüftelt bereits seit 1952 in dem kleinen Ort Hespenbusch nahe Oldenburg an Raketen. Finanzielle Mittel hat er nicht, dafür aber viel Know-how: Vor 1945 hat er in Peenemünde auf dem damals wichtigsten Raketenversuchsgelände gearbeitet.

Raketen aus Milchkannen und Papprollen

Papiere zum Raketenforscher Karl Poggensee © NDR
Über den Raketenforscher Karl Poggensee existieren noch Originaldokumente.

In Hespenbusch macht er nach dem Zweiten Weltkrieg mit seinen Versuchen weiter, diesmal sollen die Raketen allerdings allein zivilen Zwecken dienen. Mit einfachsten Materialien, aus Milchkannen, Papprollen und anderen Alltagsgegenständen, baut Poggensee in seiner Freizeit gemeinsam mit weiteren Experten die ersten Raketen zusammen. Als es ihnen gelingt, Flugkörper zu bauen, die bis zu sechs Kilometer hoch fliegen können, wird das Testgelände in Hespenbusch zu klein. Ein neues Areal muss her.

Die Wahl des Vereins fällt auf Cuxhaven. Der Schiffbauingenieur Hermann Geveke, selber Vereinsmitglied, hatte die Stadt an der Nordsee als neuen Standort vorgeschlagen. Sein Argument: In nördlicher und westlicher Richtung habe man dort freies Schussfeld. Außerdem glaubt Geveke, dass die Raketenexperimente Touristen anlocken könnten.

"Operation Backfire": Alliierte testen deutsche Raketen

Wissenschaftler experimentieren am 15. Oktober 1945 mit einer V2-Rakete in Cuxhaven. © picture alliance / ASSOCIATED PRESS
Wissenschaftler experimentieren am 15. Oktober 1945 mit einer V2-Rakete in Cuxhaven.

In Sachen Raketenstarts ist Cuxhaven kein unbeschriebenes Blatt: Bereits zur Zeit der NS-Diktatur zwischen 1933 und 1945 werden dort Experimente durchgeführt. So startet etwa im April 1933 eine Postrakete, die allerdings bereits nach wenigen Metern abstürzt. Ebenso erfolglos verläuft später der Test eines Marschflugkörpers. Im Oktober 1945, wenige Monate nach Kriegsende, nutzen die Alliierten den Standort bei Arensch südwestlich von Cuxhaven für Raketentests. Im Rahmen der "Operation Backfire" starten sie mehrere erbeutete deutschen Raketen und führen mit ihnen Demonstrationsflüge durch.

Ein alter Kriegsbunker als Vereinsheim

1957 erhält die DAFRA, die sich inzwischen in Deutsche Raketengesellschaft e.V. umbenannt hat, die Erlaubnis, im Wattenmeer zwischen Berensch und Sahlenburg Raketen starten zu dürfen. Ein alter Kriegsbunker dient als Vereinsheim. Die Cuxhavener Bürger verfolgen die Entwicklungen mit großem Interesse. Proteste, wie man heute vermuten könnte, gibt es kaum. Am 23. August 1957 wird die erste Rakete gezündet: eine Ölsprührakete, die im Seenotfall durch das Versprühen eines Ölfilms die Wellen beruhigen und so zur besseren Bergung Schiffbrüchiger beitragen soll - eine Technik, die sich nicht durchsetzt.

Start der ersten "Mohr Rocket" 1958

Wenig später entwickelt Ernst Mohr, Professor für Maschinenbau an der Universität Wuppertal, im Auftrag der Deutschen Raketengesellschaft eine Höhenforschungsrakete. Mit ihr sollen sich physikalische Messungen in den obersten Atmosphärenschichten durchführen lassen. Am 8. Juni 1958 starten die ersten drei Raketen. Doch die Versuche misslingen, die Raketen explodieren gleich nach dem Start oder stürzen ab.

Am 14. September 1958 erfolgt ein zweiter Anlauf. Und diesmal gelingt es. Die "Mohr Rockets", wie sie im englischen Sprachraum von Raketen-Fans auch genannt werden, erreichen eine Höhe von 50 Kilometern. Sie haben eine enorme Beschleunigung: von 0 auf 4.320 Kilometer pro Stunde in nur zwei Sekunden. Ein Mensch an Bord hätte nicht überlebt.

Postraketen ziehen Touristen an

Ein Postmitarbeiter befüllt im Jahr 1959 eine Rakete mit Briefsendungen. © DB dpa
Raketenschnell sollen die Postlieferungen erfolgen.

Nach dem erfolgreichen Start folgen viele weitere Experimente, insbesondere mit Post- und Versorgungsraketen. Sie sollen Post und kleine Güter auf schnelle und einfache Weise in entlegene Gebiete transportieren. Am 16. Mai 1959 startet die erste Postrakete. Sie befördert 5.000 Postkarten über eine Entfernung von drei Kilometern.

Die Postraketen werden zu Touristenmagneten: Die Menschen können in einem extra eingerichteten mobilen Postamt Briefe für den Raketentransport aufgeben. Nach dem Raketenflug werden die Briefe wieder zum Postamt zurückgebracht, wo sie einen besonderen Stempel erhalten. Heute sind diese Briefe Sammlerobjekte.

Allerdings ist die Zielgenauigkeit damals nicht sonderlich hoch. Auch die Kosten führen dazu, dass eine kommerzielle Nutzung nicht zustandekommt.

Salamander und Fisch starten in Richtung All

Im Dezember 1960 startet in Cuxhaven eine weitere neuartige Rakete. Die sogenannte Kumulus-Rakete erreicht zwar im Vergleich zur Mohrschen Rakete nur eine Höhe von 20 Kilometern, ist dafür aber wiederverwertbar. Per Fallschirm segelt die etwa drei Meter lange Rakete unversehrt zurück zum Boden. Am 16. September 1961 werden mit einer solchen Rakete erstmals auch Tiere transportiert: Ein Salamander und ein Fisch überleben den Flug. Am selben Tag startet die erste Rakete des Modells "Cirrus", eine 4,15 Meter lange Zweistufenrakete. Sie erreicht eine Höhe von 50 Kilometern.

Das erste militärische Experiment

1960 tritt Berthold Seliger der Deutschen Raketengesellschaft bei, die zu dieser Zeit nach dem Raketen- und Raumfahrtpionier in Hermann-Oberth-Gesellschaft umbenannt wird. Gleichzeitig gründet Seliger eine eigene Firma, die Prototypen von Höhenforschungsraketen baut. Mit ihr beginnt er, erstmals auch militärisch verwertbare Raketen zu entwickeln. Auftraggeber ist unter anderem die Waffen- und Luftrüstungs AG, ein Zusammenschluss von Konzernen der deutschen Rüstungsindustrie.

Am 5. Dezember 1963 präsentiert die AG in Cuxhaven Raketen vor ausländischen Militärvertretern aus Nicht-NATO-Staaten. Die Aktion stößt international auf Kritik, die Bundesregierung geht auf Distanz. Die Befürchtungen, dass die Raketen in unberechenbare Staaten exportiert werden könnten, ist groß.

1964 erfolgt das Ende der Raketenstarts

Ein Wissenschaftler hält am 23. März 1964 in Cuxhaven eine Versorgungsrekete in der Hand. © NDR
Ein Wissenschaftler hält am 23. März 1964 in Cuxhaven eine Versorgungsrekete in der Hand.

Fortan werden die Raketenexperimente in Cuxhaven von offizieller Seite mit Skepsis betrachtet. Trotzdem darf die Hermann-Oberth-Gesellschaft die Versuche zunächst fortführen. Doch ab Juni 1964 erhält sie keine Flug-Genehmigung mehr. Grund ist auch ein Raketenunfall, der sich am 7. Mai 1964 in Braunlage im Harz ereignet: Bei einer Explosion wird eine Metallstange in die Zuschauermenge geschleudert. Ein 14 Jahre alter Junge und ein Mann kommen bei diesem Raketenversuch ums Leben. Eine dritte Person wird schwer verletzt. Versuche mit einer Flughöhe von mehr als 100 Metern werden von nun an verboten - und die Raketenexperimente in Cuxhaven komplett eingestellt.

Test-Areal gehört zum Nationalpark Wattenmeer

Heute ist das ehemalige Test-Areal Teil des Nationalparks Niedersächsisches Wattenmeer. Die Hermann-Oberth-Gesellschaft ist 1993 in der Deutschen Gesellschaft für Luft- und Raumfahrt aufgegangen. An Raketen wie "Kumulus" und "Cirrus" erinnert das Museum und Archiv für Raumfahrtgeschichte in Feucht bei Nürnberg.

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23.03.1964 | 00:00 Uhr

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