Die Sturmflut-Chronik: So war Schleswig-Holstein vorbereitet
Das Jahrhundert-Ereignis im Zeitraffer: Der Rückblick auf die dramatischen Ereignisse in Schleswig-Holstein zeigt auch, dass Nachbar Dänemark präzise gewarnt und frühzeitig evakuiert hat.
Erste Hinweise auf ein bevorstehendes Ostsee-Hochwasser gibt es am Montag, dem 16. Oktober, im Wetterbericht des Schleswig-Holstein Magazins: Diplom-Meteorologe Sebastian Wache kündigt an, dass ein "sehr, sehr starker östlicher Wind" für einen deutlichen Anstieg der Ostsee sorgen werde. Das tatsächliche Ausmaß ist für die Meteorologen zu diesem Zeitpunkt noch nicht vorherzusagen - die Pegel-Prognosen für das Wochenende in der Flensburger Förde und der Trave bei Lübeck liegen am Montag noch bei maximal 1,50 Meter über Normalwert.
Die dänischen Behörden warnen mit Karten
Auf Behördenseite warnt Dienstagmittag zuerst Dänemarks amtliches meteorologisches Institut, das Dansk Meteorologiske Institut (DMI), vor einem Hochwasser im Südosten des Nachbarlandes - zunächst Warnstufe zwei von drei. Das Institut aktualisiert die Karte in den folgenden Tagen laufend.
Schleswig-Flensburg: Erste Sandsäcke am Mittwoch
Ebenfalls am Dienstag informiert das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH) den später von der Sturmflut besonders hart getroffenen Kreis Schleswig-Flensburg über eine bevorstehende Hochwasserlage ab dem 19. Oktober. "Am 17. Oktober (Dienstag, Anm. d. Red.) wurden alle Städte, Ämter und Gemeinden den Kreises über das bevorstehende Ereignis informiert", heißt es vom Kreis Schleswig-Flensburg. Am Mittwoch besetzt der Kreis sein Lagezentrum und gibt Tausende Sandsäcke an Städte, Ämter und Gemeinden aus - vor allem an Langballig, Arnis und Kappeln. Am Mittwoch veröffentlicht auch der Deutsche Wetterdienst (DWD) eine erste Warnung.
Donnerstag: Dänische Polizei evakuiert Küstengebiete
Am Donnerstag fordert die dänische Polizei Touristen und Anwohner im Süden und im Osten Dänemarks dazu auf, das Küstengebiet bis spätestens Freitagmorgen zu verlassen. Zu diesem Zeitpunkt stehen im Südosten Dänemarks schon einige Regionen unter Wasser. Evakuierungsmaßnahmen gibt es in Schleswig-Holstein nicht - noch nicht. Das deutsche BSH geht in seinen Modellprognosen am Donnerstag von Wasserständen bis zu zwei Meter über Normal in der Flensburger Förde aus.
Der historische Flut-Freitag: Es kommt schlimmer als gedacht
Wie ernst es in Schleswig-Holstein wirklich ist, demonstriert die Schlei am Freitagmorgen. Der Pegel des Ostseearms steht bereits deutlich über den Vorhersagen. In Schleswig sind Straßenzüge überflutet, die Polizei warnt davor, der Schlei zu nah zu kommen. Tag und Nacht werden im gesamten Kreis Schleswig-Flensburg bis zu 800 Feuerwehrleute gleichzeitig im Einsatz sein. Hunderte Keller laufen voll. Später soll oft auf die außergewöhnliche Hilfsbereitschaft im ganzen Land verwiesen werden.
In Flensburg regnet es am Freitag in Strömen. Schon Stunden, bevor laut den Modellrechnungen der Scheitelpunkt erreicht werden soll, drückt das Wasser mit extrem viel Wucht in die Förde - Autos schwimmen weg, das Wasser steigt und steigt.
Ein Todesopfer auf Fehmarn
Gegen 18 Uhr verunglückt auf Fehmarn eine junge Frau tödlich, als ein Baum auf ihr Auto stürzt. Die Kleinstadt Arnis im Kreis Schleswig-Flensburg muss einen Deichabschnitt aufgeben - 40 Häuser werden dort beschädigt, elf davon schwer. Drei Deiche brechen, viele werden beschädigt. Evakuierungen unter anderem auf der Halbinsel Holnis (Kreis Schleswig-Flensburg) und Schönhagen in Rendsburg-Eckernförde, wo kreisweit 450 Einsatzkräfte gegen die Naturgewalten ankämpfen - um kurz vor 21 Uhr wird dort Katastrophenalarm ausgerufen. Im ganzen Land rückt die Feuerwehr bis zum frühen Morgen mehr als 1.500 Mal aus. Es ist auch diesen Profis und vielen Freiwilligen zu verdanken, dass durch die Flut auf dem Festland keine Menschen zu Schaden kommen.
So hoch wie zuletzt im 19. Jahrhundert
Um 22.40 Uhr ist in Flensburg der Scheitelpunkt erreicht: Das Wasser steht jetzt bei 2,27 Meter über Normal, so etwas hat hier noch keiner erlebt: Heftiger war ein Flensburger Hochwasser zuletzt am 13. November 1872 - damals erreichte es 3,08 Meter. Im Hafenbereich ist der Strom weg, so wie auch in Schleswig. Das Wasser bleibt in Schleswig-Holsteins drittgrößter Stadt in dieser Nacht laut BSH neun Stunden bei mindestens 2 Meter über dem Normalmittelwasser.
Das Schadensbild: "Es ist eine Vollkatastrophe"
"Mit dem ersten Tageslicht wird man auch die Schäden erstmal konkreter erkennen", sagt Ralf Kirchhoff, Leiter des Stabes Katastrophenschutz im Innenministerium Schleswig-Holstein, am Sonnabendmorgen. Und die sind wie erwartet heftig: an Hochwasserschutzanlagen, an Gebäuden, an Infrastruktur - die in vielen Küstenregionen auch touristisch für die Menschen vor Ort von riesiger wirtschaftlicher Bedeutung ist. "Es ist eine Vollkatastrophe. Ich weiß nicht, wie viele Schiffe gesunken sind. Überall gucken Masten raus. Boote, wo du rechts und links gucken kannst, alles an Land. Hier hat sich alles zerlegt. Es ist wirklich nur noch Chaos", sagt Bootsbauer Björn Hansen in Schleswig. Ein ähnliches Bild unter anderem in Heiligenhafen. Anfang November schätzt die Landesregierung die Flutschäden auf insgesamt rund 200 Millionen Euro. Viele Versicherungen zahlen nicht.
Kein Geld vom Bund
Das Bundeslandwirtschaftsministerium stellt Mitte Dezember klar: Es wird von der Ampelkoalition keine besonderen Hilfen für den Wiederaufbau geben. Vom Land gibt es das Darlehensprogramm "Überbrückungshilfe Sturmflut". Pro Immobilie oder Betriebsstätte können die Betroffenen seit Ende November bei der Investitionsbank Schleswig-Holstein einen Kredit in Höhe von maximal 50.000 Euro beantragen.
Spendengelder: Kampf gegen Bürokratie
Die Spendenbereitschaft in Schleswig-Holstein ist riesig - die Kleinstadt Arnis gründet einen Hochwasser-Auschuss, um die Spenden in Höhe von mittlerweile knapp 400.000 Euro gerecht an flutgeschädigte Arnisser zu verteilen. "Der bürokratische Aufwand für den Ausschuss ist riesengroß. Die Verteilung solcher Spendengelder ist überreglementiert, wie so vieles in Deutschland", sagt Sandra Hiller, Mitorganisatorin der Spendenaktion. Erste Soforthilfen seien in Arnis im Dezember geflossen. Weitere Spendenaktionen sollen im Februar folgen.
Die Konsequenzen: Mehr Deiche in Landesverantwortung?
Nach den teilweise heftigen Deichschäden debattiert die Landespolitik neu über das Thema Ostsee-Küstenschutz. Die oft nur zwei bis drei Meter hohen Anlagen sind nur zu etwa 43 Prozent in der Hand des Ministeriums für Küstenschutz. Küstenschutzminister Tobias Goldschmidt (Grüne) sagte im Dezember, dass es bei rund einem Drittel der Deiche Sinn mache, die Zuständigkeit beim Land anzusiedeln. Goldschmidt spricht von circa 15 von insgesamt 39 Kilometern Ostsee-Deich, auf die das zutreffen könnte. Eine Entscheidung steht noch aus.