Theater-Serie "Anthropolis": "Man möchte nicht aufhören zu gucken"
Eine grandiose Lina Beckmann, erschreckend aktuelle Bezüge und das Gefühl, immer weiter gucken zu wollen: Im Interview sprechen die NDR Kultur Theater-Experten Katja Weise und Peter Helling über ihr jeweiliges Fazit zur Antiken-Serie "Anthropolis" am Hamburger Schauspielhaus.
In fünf Stücken haben Dramaturg Roland Schimmelpfennig und Regisseurin Karin Beier den Aufstieg und Fall der Stadt Theben gezeigt. Mit "Antigone" hatte am Freitag die letzte Folge der großen Antiken-Serie am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg Premiere.
Peter, hat diese Serie für euch Sinn ergeben?
Peter Helling: Bei fünf Teilen taucht man schon noch mal anders in diese Mythen ein, in dieses riesige Räderwerk der Antike. Wenn sich diese Geschichten so nahtlos aneinanderreihen, kriegt man ein bisschen so ein "Herr der Ringe"-Gefühl. Man möchte gar nicht aufhören zu gucken. Man guckt auch nochmal anders, weil man nach Details guckt, nach roten Fäden und danach, wie eigentlich das Menschsein aufgestellt ist. Und das schafft so ein Fünfteiler besser als einzelne Stücke, finde ich.
Und für dich, Katja?
Katja Weise: Absolut, ja. Ich fand es wirklich faszinierend, wie Karin Beier und Roland Schimmelpfennig es schaffen, diesen Bogen zu bilden. Es geht los in einer Zeit, in der die Götter noch wichtig sind für die Menschen: Dionysos kommt nach Theben und will über die Stadt herrschen. Die Reihe endet mit Antigone in einer Stadt, in der es keine Götter mehr gibt - wo Antigone vorsichtig die Frage nach dem Glauben stellt und wir uns alle mit ihr fragen: Was ist eigentlich im Himmel? Wie können wir umgehen mit diesem leeren Himmel? Ich fand es einfach faszinierend, wie sich diese Frage durch alle fünf Teile durchzieht und auf verschiedenen Ebenen behandelt wird. Auch wenn ich mich ein bisschen scheue, das Wort zu verwenden: Da ist etwas Großes gelungen.
Helling: Eindeutig. Ich finde auch: Es ist eine Geschichte unserer Zivilisation. Es geht darum, wie wir eigentlich sind und wie wir wurden, was wir sind. Diese Frage ist heutiger denn je.
Was waren aus Theatersicht die großen Höhepunkte für euch?
Weise: Für mich war es vom Gefühl her der zweite Teil, "Laios", das große Lina-Beckmann-Solo. Sie ist einfach eine großartige Schauspielerin. Der Text von Roland Schimmelpfennig hat mir in dem Teil auch besonders gut gefallen. Es ist ein Text, den er mehr oder weniger frei geschrieben hat. In den anderen Teilen geht er zurück auf Texte von Sophokles, vor allem bei "Ödipus" und "Antigone". Lina Beckmann in diesem Stück zu erleben, wie sie am Ende mit dem Publikum im Saal steht, das war einfach faszinierend. Sie kommt auch schon im ersten Teil, bei "Prolog/Dionysos", vor. Da habe ich den für mich eigentlich eindrücklichsten Moment gesehen, wo sie eine Frau spielt, die langsam begreift, dass sie im Wahn ihren eigenen Sohn umgebracht hat. Ich glaube, dieses Bild wird mich noch über Jahre begleiten. Wie ist das bei dir, Peter?
Helling: Lina Beckmann ist für mich absolut das Gesicht dieser Reihe. Ich bin wirklich mit ihr mitgegangen, zumal sie so eine moderne Schauspielerin ist. Sie ist wie eine Gauklerin: Sie kann sofort Brüche liefern, von der Komödie zur Tragödie wechseln. Das ist unfassbar. Ich möchte aber auch Lilith Stangenberg nennen, die die Antigone am Schluss gespielt hat. Das ist ein ganz anderer Typ Schauspielerin. Sie geht über die Einfühlung, taucht in eine Figur ein und schert sich ums Publikum erst einmal relativ wenig. Dabei gibt sie ihrer Figur eine antike Höhe, bei der ich dachte: Das kann man doch heute nicht mehr machen. Ich dachte, Antike ist irgendwie durch. Aber nein: Sie erschüttert einen, finde ich. Und diese beiden Pole, diese beiden Frauen, sind für mich die Highlights: Das Moderne einer Lina Beckmann und das fast Archaische, fast Altmodische, obwohl sie es ganz modern spielt, dieser großen Einfühlerin Lilith Stangenberg.
Gibt es etwas, das ihr ankreiden würdet?
Helling: Ich habe relativ wenig, was mir aufstieß. Aber der vierte Teil, "Iokaste", beginnt mit mehreren Schleifen. Es geht um eine Mutter, deren Söhne sich auf den Tod streiten und bekriegen. Und da passiert etwas, was im postmodernen Theater gerne kommt, wenn man nicht wirklich weiß, was man erzählen will. Da werden Figuren in Wiederholungsschleifen geschickt: Wir müssen Frieden schließen, wir müssen Frieden schließen ... Das hat nicht so wirklich funktioniert, finde ich. Das war für mich eine kleine Schwäche dieser fünf Teile.
Weise: Da ist es jetzt ein bisschen langweilig, wenn ich sage, es ist mir ähnlich ergangen. Aber es ist in der Tat so. Man kann schon auf fast jeden dieser Teile gucken und irgendetwas bemängeln, wo ich mich dann manchmal auch gefragt habe: Ist das jetzt zu platt? Brauche ich diese Hasenohren an der Stelle wirklich? Ist das zu viel Blut? Muss Ödipus sich diese schwarzen Augenhöhlen malen, wo wir doch alle begriffen haben, dass er sich gerade geblendet hat? Aber dann habe ich wieder gedacht: Nein, es funktioniert in der Gesamtschau dann eigentlich doch. Denn das finde ich faszinierend an diesem Abend: Dass er diese alten Texte so ins Heute holt und sich gleichzeitig auch an Mitteln bedient, die ganz modern sind. Die wir aus Netflix-Serien kennen und die manchmal auch so ein bisschen splattermäßig sind. Dadurch werden viele Menschen mitgenommen, gerade auch die jungen Leute, die ich in der Aufführung gesehen habe.
Wie habt ihr das Publikum erlebt?
Weise: Durch die Bank eigentlich begeistert. Ich habe mit vielen gesprochen, die dann zum Beispiel gesagt haben: "Ich habe schon Teil eins und Teil drei gesehen, Teil zwei mit Lina Beckmann fehlt mir noch, muss ich unbedingt noch nachholen." Oder die Leute haben die Teile miteinander verglichen. Man merkte: Viele waren schon einmal oder mehrmals da gewesen.
Helling: Einen Satz habe ich immer wieder gehört: "Es ist so aktuell". Es ist so aktuell, weil viel vom Krieg die Rede ist. Es ist Krieg. Und wie lösen wir dieses Dilemma? Und am Ende dieser fünf Teile steht doch eine Frage im Raum: Was sehen wir, in welche Zukunft gehen wir? Welche Zukunft wollen wir haben? Dann möchte ich noch zwei Dinge erwähnen: Michael Wittenborn spielt einen blinden Seher, der durch alle fünf Teile geht. Er spricht ganz moderne Zeilen und bricht das Ganze aufs Heute herunter. Und diese Leichtigkeit, dieses mürbe Moderne, das hat mir fast das Herz gebrochen. Noch ein Motiv, das ich in diesen fünf Teilen sehe: zerstörte Kinderschicksale. In jedem Teil taucht es auf: Kinder, die die ersten Opfer des Krieges sind. Ein Kind, Antigone, wird zum Kind, das am Ende tot auf der Bühne liegt. Dieses Motiv hat sich wirklich durchgezogen. Da sind wir ganz im Heute und das erschüttert sehr.
Weise: Ein Satz, der mich wirklich auch tief getroffen hat, ist der von Sophokles: "Gewaltig ist vieles, aber nichts ist gewaltiger als der Mensch." Das am Ende dieser fünf Teile zu hören macht was mit einem.
Das Gespräch führte Philipp Schmid.