"Iokaste"-Premiere in Hamburg: Wucht durch Aktualität

Stand: 28.10.2023 09:48 Uhr

Intendantin Karin Beier startet am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg mit einem Mammutprojekt in die neue Spielzeit. Mit "Iokaste" gab es nun die vierte von insgesamt fünf Premieren der Antikenserie "Anthropolis".

Szene mit Maximilian Scheidt und Paul Behren auf der Bühne © Thomas Aurin, 2023/Deutsches Schauspielhaus Hamburg Foto: Thomas Aurin
Beitrag anhören 4 Min

von Katja Weise

Draußen an der Fassade des Schauspielhauses hängt ein großes Banner: "Nein zu Antisemitismus und Terror". Drinnen auf der Bühne heißt es: "Es muss Frieden geben können. Und gibt es keinen Frieden, dann muss Frieden verhandelt werden."

Iokaste sitzt am Verhandlungstisch. Ihre Söhne Eteokles links und Polyneikes rechts neben ihr. Beide wollen Krieg gegeneinander führen. Eteokles, weil er weiter herrschen will, Polyneikes, weil er sich um die Herrschaft betrogen sieht. Mit einem großen Heer lagert er vor den Toren Thebens. "So einen aktuellen Bezug habe ich selten im Theater erlebt," meint eine Zuschauerin im Anschluss.

"Iokaste": Vierter Teil der Antiken-Saga am Deutschen Schauspielhaus

Immer wieder fordert Iokaste die Söhne zu Verhandlungen auf, immer wieder mit den gleichen Worten. Die Geschichte dreht sich im Kreis. Nur der Tisch wird länger, wenn auch nicht ganz so lang wie der, an dem Putin im vergangenen Jahr westliche Staatsmänner empfing. Keiner der Brüder ist bereit, auf etwas zu verzichten, sie hören nicht auf ihre Mutter: "Diesen Krieg kann niemand gewinnen, denn wer ihn gewinnt, verliert ihn dennoch." Götter spielen keine Rolle mehr in dieser Gesellschaft, sie hat ihnen abgeschworen. Doch der Fluch des Ödipus, Sohn und Mann der Iokaste, verfolgt die Stadt immer noch.

Karin Beier zeigt in einem komplett schwarzen Bühnenkasten eine düstere, rohe Welt am Abgrund. Ein Entkommen ist nicht möglich, kaum einer hat hier wirklich eine Wahl. Die Leichtigkeit, die vor allem in den ersten beiden Teilen der Serie noch aufblitzte: verschwunden. Für Zwischentöne ist wenig Raum.

Weitere Informationen
Lina Beckmann mit einer Schaufel © Monika Rittershaus

"Anthropolis": Blockbuster-Serie am Hamburger Schauspielhaus

In fünf Stücken zeigen Roland Schimmelpfennig und Karin Beier den Aufstieg und Fall der Stadt Theben. Die Serie startete mit "Dionysos". mehr

Karin Beiers konsequente Schwarz-Weiß-Ästhetik

Atmen kann der Abend, wenn Michael Wittenborn als blinder Seher Teiresias die Bühne betritt oder Daniel Hoevels als Menoikeus. Der ist, anders als die hasserfüllten Brüder, bereit, ein Opfer zu bringen. Er glaubt noch an etwas, das wichtiger ist als Macht und Geld.

Karin Beier arbeitet mit einer konsequenten Schwarz-Weiß-Ästhetik, für starke Bilder sorgen vor allem die Projektionen, die immer wieder über die Wände flimmern. Am Ende fließt eimerweise Blut, und doch findet die Inszenierung hier zu sich, zu einer Konzentration und Ruhe, die erschüttert. Minutenlang stehen die Brüder blutüberströmt ineinander verkeilt. 

"Iokaste": Bindeglied zwischen "Ödipus" und "Antigone"

"Iokaste" ist der bisher schwächste Teil der Serie, nicht nur inszenatorisch - das gilt auch für den Text von Roland Schimmelpfennig. Vielleicht war die Grundidee des immerwährenden, zu nichts führenden Kreislaufs, des immer wieder mit den gleichen Worten neu Ansetzens, allzu verlockend, wenngleich absolut nachvollziehbar.

Dieses Stück ist spürbar ein Bindeglied, eine Brücke von "Ödipus" zu "Antigone", dem Finale der Serie und tut sich etwas schwer, allein zu stehen. Wucht entsteht vor allem durch die erschreckende Aktualität.

 

Weitere Informationen
Ein gehörnter Mann sitzt an einem Tisch, auf dem Weingläser und Flaschen stehen. © Monika Rittershaus

"Prolog/Dionysos": Starker Auftakt der Antiken-Serie in Hamburg

Die Uraufführung im Deutschen Schauspielhaus hat gezeigt: Die Antike ist immer noch lebendig - und ihre Geschichten sind hochtoxisch. mehr

Eine Frau blutverschmiert auf einer Bühne. © Monika Rittershaus Foto: Monika Rittershaus

"Laios": Eine fantastische Lina Beckmann in Hamburger Antiken-Serie

Im zweiten Teil der Antiken-Serie spielt Beckmann alle Rollen allein auf der Bühne und erntet ohrenbetäubenden Beifall. mehr

Die Darsteller Devid Striesow und Julia Wieninger stehen auf einer dunklen Bühne, er hält sich mit einer Krücke aufrecht. © Monika Ritterhaus

"Ödipus" in Hamburg: Ein großartiger Abend - mit holprigem Start

Das Schauspielhaus musste am Anfang geräumt werden - Grund war ein Alarm. Doch dann wurde das Publikum fürs Warten belohnt. mehr

Eine Frau liegt auf einer Bühne neben einem Skelett. © Thomas Aurin

"Antigone": Niederlage des Menschen, Triumph des Theaters

In Hamburg ist am Freitag das Finale der Antiken-Serie "Anthropolis" am Deutschen Schauspielhaus uraufgeführt worden. mehr

Drei Menschen halten einen Mann über Kopf © Monika Rittershaus

Theater-Serie "Anthropolis": "Man möchte nicht aufhören zu gucken"

Mit "Antigone" endet die Antikenserie am Hamburger Schauspielhaus. Die NDR Kultur Theaterexperten Katja Weise und Peter Helling über ein phänomenales Theatererlebnis. mehr

"Iokaste"-Premiere in Hamburg: Wucht durch Aktualität

"Iokaste" bildet eine Brücke von "Ödipus" zum Finale der Antiken-Saga. Das Stück tut sich schwer, allein zu stehen.

Art:
Bühne
Datum:
Ort:
Deutsches Schauspielhaus Hamburg
Kirchenallee 39
20099 Hamburg
In meinen Kalender eintragen

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Der Morgen | 28.10.2023 | 07:20 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Theater

Hände halten ein Smartphone auf dem der News-Channel von NDR Kultur zusehen ist © NDR.de

WhatsApp-Channel von NDR Kultur: So funktioniert's

Die Kultur Top-News aus Norddeutschland direkt aufs Smartphone: NDR Kultur ist bei WhatsApp mit einem eigenen Kanal aktiv. mehr

Eine Grafik zeigt einen Lorbeerkranz auf einem Podest vor einem roten Hintergrund. © NDR

Legenden von nebenan: Wer hat Ihren Ort geprägt?

NDR Kultur erzählt die Geschichte von Menschen, die in ihrer Umgebung bleibende Spuren hinterlassen haben - und setzt ihnen ein virtuelles Denkmal. mehr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung © NDR Kultur

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mann und Frau sitzen am Tisch und trinken Tee. © NDR Foto: Christian Spielmann

Tee mit Warum - Die Philosophie und wir

Bei einem Becher Tee philosophieren unsere Hosts über die großen Fragen. Denise M‘ Baye und Sebastian Friedrich diskutieren mit Philosophen und Menschen aus dem Alltag. mehr

Mehr Kultur

Ein Sänger steht auf einer Bühne, hält in einer Hand das Mikrofon und die andere ist nach oben gestreckt. © picture alliance / Gonzales Photo/Nikolaj Bransholm Foto: Gonzales Photo/Nikolaj Bransholm

Hurricane Festival: The Prodigy, Apache 207 und Sam Fender kommen 2025

Die englische Elektro-Punk-Band The Prodigy und ein Who-is-Who der deutschen Pop- und HipHop-Szene haben sich für 2025 angekündigt. mehr

Das Logo von #NDRfragt auf blauem Hintergrund. © NDR

Umfrage zum Fachkräftemangel: Müssen wir alle länger arbeiten?