"Ödipus" in Hamburg: Ein großartiger Abend - mit holprigem Start

Stand: 14.10.2023 09:12 Uhr

"Ödipus" nach Sophokles, inszeniert als böser, finsterer Psychothriller mit Devid Striesow: Am Freitag wurde der dritte Teil der Antiken-Serie am Deutschen Schauspielhaus uraufgeführt. Wegen eines Alarms musste das Publikum anfangs vor die Tür.

Die Darsteller Devid Striesow und Julia Wieninger stehen auf einer dunklen Bühne, er hält sich mit einer Krücke aufrecht. © Monika Ritterhaus
Beitrag anhören 4 Min

von Peter Helling

Der Mensch macht alles falsch. Was er auch tut: Er verbockt es. Davon erzählt dieser großartige Theaterabend. Allerdings mit einer Stunde Verspätung, denn das Schauspielhaus wird am Anfang komplett geräumt, nachdem ein Alarm losging. Es ist ein Moment, wie an einem "Freitag, den 13." - Intendantin Karin Beier erklärt schließlich: Es war die Sprinkleranlage und bedankte sich beim Publikum fürs Warten.

Das Publikum wartet in einer Seitenstraße neben dem Deutschen Schauspielhaus, dass es wieder ins Gebäude kann. © NDR Foto: Peter Helling
Uraufführung mit Verspätung: Das Publikum wartet neben dem Deutschen Schauspielhaus, dass es wieder ins Haus kann.
"Ödipus": Dritter Teil der Antiken-Saga am Deutschen Schauspielhaus

Man hatte Schlimmeres befürchtet angesichts der Weltlage und des Polizeiaufgebots vor dem Hauptbahnhof. Drinnen stellt sich heraus: Das geduldige Warten hat sich gelohnt. "Uns wäre auch nicht die Idee gekommen, wegzugehen", sagt eine Besucherin. "Ödipus", der dritte Teil der Antiken-Saga im Schauspielhaus, ist in der Fassung von Roland Schimmelpfennig ein böser, finsterer Psychothriller: über einen  Mann, der realisiert, dass er der Mörder seines Vaters ist und der Ehemann seiner eigenen Mutter. Wahrheit kann töten. 

Ich bin verflucht, keinen Menschen hassen die Götter mehr als mich.  Devid Striesow als Ödipus

Die Darstellerin Karin Neuhäuser sitzt auf der Attrappe eines Stiers, der auf einer Bühne liegt. © Monika Ritterhaus
Rotzig, abgründig und todkomisch: Karin Neuhäuser in "Ödipus" am Deutschen Schauspielhaus.

Beier hat diesen Theaterabend ungeheuer straff inszeniert - da ist kein Effekt zu viel. Er erzählt von der menschlichen Anmaßung, schlauer zu sein als die Götter. Dabei beginnt alles ganz harmlos: Karin Neuhäuser betritt die Bühne, wie eine esoterisch angehauchte Griechenland-Touristin. Sie nimmt vorne auf der Bühne auf einem Erdhügel Platz. Sie, die Priesterin, erzählt vom Orakel von Delphi, dem Mittelpunkt der Welt und dem Raum der Fragen. Wir als Zuschauer sitzen am Eingang zu diesem Raum, der tödlich ist. Zu viel zu fragen kann einem das Leben kosten.

Jeder, der hierher kommt, jede, den quält eine übermächtige Frage, eine Frage, die so groß ist, dass ein Leben ohne eine Antwort auf sie jedem, der hierhergekommen ist, nicht länger möglich erscheint.  Karin Neuhäuser als die Priesterin

Devid Striesow: Fabelhaft als Ödipus 

Neuhäuser spielt großartig, rotzig, abgründig und todkomisch. Ödipus ist zunächst ein echter Politiker im schicken Anzug, einer der anpackt, der Erde schaufelt. Aber etwas läuft schief, in seinem Reich wütet eine Seuche. Devid Striesow ist fabelhaft in dieser Rolle, mit blondiertem Kurzhaarschnitt, breitem Lächeln. Der stellt keine Fragen, dem kann kein Orakel was. 

Jeder Mensch hier darf frei sprechen, und jeder hier darf denken, was es auch sei. Denn ich vertraue auf die Vernunft.  Devid Striesow als Ödipus

Nur Teiresias, der blinde Seher, wundervoll gebrochen und komisch gespielt von Michael Wittenborn, nervt. Er erklärt: Um die Seuche zu beenden, muss ein altes Unrecht gesühnt werden. Das Problem: Ödipus selbst ist das Problem.

40-köpfiger Chor: Gespannte Nerven angesichts der Katastrophe 

Im Oberrang steht ein 40-köpfiger Chor. Was für ein Stereo-Effekt! Diese Gruppe, das sind die gespannten Nerven von uns allen, angesichts einer Katastrophe. Der Schrei nach den Göttern. Wie die Erkenntnis in Ödipus reift, was er getan hat: Das ist ein bitteres Erlebnis. Striesow wird zum keckernden Pseudo-Diktator, zum Clown - und am Ende: zum unerlösten, zerbrochenen Kind. Mit zerstochenen Augäpfeln.

In einer Sequenz tragen Tänzer Kinder auf die Bühne. Als wären sie tot. Ein Zuschauerin erzählt danach: "Es ist verdammt nochmal sehr aktuell, und das macht unfassbar traurig. Aber gerade deswegen ist es so wichtig." Eine andere Besucherin lobt: "Das war eine ganz tolle Inszenierung, das Bühnenbild war toll, es passte alles zusammen, auch mit diesem tollen Chor da oben.

Was bleibt? Die Trauer über den Menschen und das heisere, bellende Lachen von Karin Neuhäuser, die mit Theaternebel in die Tiefe des Raumes geht.

Weitere Informationen
Drei Menschen halten einen Mann über Kopf © Monika Rittershaus

Theater-Serie "Anthropolis": "Man möchte nicht aufhören zu gucken"

Mit "Antigone" endet die Antikenserie am Hamburger Schauspielhaus. Die NDR Kultur Theaterexperten Katja Weise und Peter Helling über ein phänomenales Theatererlebnis. mehr

Eine Frau liegt auf einer Bühne neben einem Skelett. © Thomas Aurin

"Antigone": Niederlage des Menschen, Triumph des Theaters

In Hamburg ist am Freitag das Finale der Antiken-Serie "Anthropolis" am Deutschen Schauspielhaus uraufgeführt worden. mehr

Szene mit Maximilian Scheidt und Paul Behren auf der Bühne © Thomas Aurin, 2023/Deutsches Schauspielhaus Hamburg Foto: Thomas Aurin

"Iokaste"-Premiere in Hamburg: Wucht durch Aktualität

"Iokaste" bildet eine Brücke von "Ödipus" zum Finale der Antiken-Saga. Das Stück tut sich schwer, allein zu stehen. mehr

Ödipus (Devid Striesow) sitzt an einem Tisch und schlägt die Hände über dem Kopf. © Monika Rittershaus

Devid Striesow und Roland Schimmelpfennig über "Ödipus" am Schauspielhaus

Devid Striesow spielt die Hauptrolle im "Ödipus". Für den Dramaturgen Roland Schimmelpfennig das schwierigste Stück. mehr

Eine Frau blutverschmiert auf einer Bühne. © Monika Rittershaus Foto: Monika Rittershaus

"Laios": Eine fantastische Lina Beckmann in Hamburger Antiken-Serie

Im zweiten Teil der Antiken-Serie spielt Beckmann alle Rollen allein auf der Bühne und erntet ohrenbetäubenden Beifall. mehr

Ein gehörnter Mann sitzt an einem Tisch, auf dem Weingläser und Flaschen stehen. © Monika Rittershaus

"Prolog/Dionysos": Starker Auftakt der Antiken-Serie in Hamburg

Die Uraufführung im Deutschen Schauspielhaus hat gezeigt: Die Antike ist immer noch lebendig - und ihre Geschichten sind hochtoxisch. mehr

Lina Beckmann mit einer Schaufel © Monika Rittershaus

"Anthropolis": Blockbuster-Serie am Hamburger Schauspielhaus

In fünf Stücken zeigen Roland Schimmelpfennig und Karin Beier den Aufstieg und Fall der Stadt Theben. Die Serie startete mit "Dionysos". mehr

"Ödipus" in Hamburg: Ein großartiger Abend - mit holprigem Start

Das Schauspielhaus musste am Anfang geräumt werden - Grund war ein Alarm. Doch dann wurde das Publikum fürs Warten belohnt.

Art:
Bühne
Datum:
Ort:
Deutsches Schauspielhaus
Kirchenallee 39
20099 Habmburg
Telefon:
040 248713
In meinen Kalender eintragen

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Der Morgen | 14.10.2023 | 07:40 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Theater

Szenenbild: Drei Darstellerinnen sitzen auf Wartebänken, im Hintergrund steht ein Bahnwärter in einem Häuschen. © Matthias Horn

Zauberhaft: Christoph Marthalers Abend über Emily Dickinson in Hamburg

Das Stück "Im Namen der Brise" bringt Texte der amerikanischen Dichterin auf die Bühne des Deutschen Schauspielhauses. mehr

Hände halten ein Smartphone auf dem der News-Channel von NDR Kultur zusehen ist © NDR.de

WhatsApp-Channel von NDR Kultur: So funktioniert's

Die Kultur Top-News aus Norddeutschland direkt aufs Smartphone: NDR Kultur ist bei WhatsApp mit einem eigenen Kanal aktiv. mehr

Eine Grafik zeigt einen Lorbeerkranz auf einem Podest vor einem roten Hintergrund. © NDR

Legenden von nebenan: Wer hat Ihren Ort geprägt?

NDR Kultur erzählt die Geschichte von Menschen, die in ihrer Umgebung bleibende Spuren hinterlassen haben - und setzt ihnen ein virtuelles Denkmal. mehr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung © NDR Kultur

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mann und Frau sitzen am Tisch und trinken Tee. © NDR Foto: Christian Spielmann

Tee mit Warum - Die Philosophie und wir

Bei einem Becher Tee philosophieren unsere Hosts über die großen Fragen. Denise M‘ Baye und Sebastian Friedrich diskutieren mit Philosophen und Menschen aus dem Alltag. mehr

Mehr Kultur

Ein Sänger steht auf einer Bühne, hält in einer Hand das Mikrofon und die andere ist nach oben gestreckt. © picture alliance / Gonzales Photo/Nikolaj Bransholm Foto: Gonzales Photo/Nikolaj Bransholm

Hurricane Festival: The Prodigy, Apache 207 und Sam Fender kommen 2025

Die englische Elektro-Punk-Band The Prodigy und ein Who-is-Who der deutschen Pop- und HipHop-Szene haben sich für 2025 angekündigt. mehr

Das Logo von #NDRfragt auf blauem Hintergrund. © NDR

Umfrage zum Fachkräftemangel: Müssen wir alle länger arbeiten?