"Heute ist mitten in der Nacht": Über die Angst in Zeiten von Krankheit und Krieg
In einer Collage aus Gedichten, Erinnerungen, Zitaten, Briefen, grammatikalischen Tricks und Analysen einzelner Vokabeln erschafft Kerstin Preiwuß den Eindruck einer Art Tiefenzeit, die über das eigene Leben hinausgeht.
Die 1980 in Lübz geborene Schriftstellerin Kerstin Preiwuß wird von der Kritik vor allem für ihre präzise Spracharbeit gelobt. Sowohl in ihren Gedichtbänden als auch in ihren Romanen widmet sie sich der vertrackten Wechselwirkung zwischen Verlust und Weiterleben. Dabei spielen einzelne Wörter und die Grammatik eine entscheidende Rolle. Kerstin Preiwuß' neuer Roman "Heute ist mitten in der Nacht" dreht sich um die Angst in Zeiten von Krankheit und Krieg.
Kerstin Preiwuß' verschlossene Sprache
Beinahe wären die Mutter und ihr Kind beim Inlineskaten von einem Bus überfahren worden. Beinahe wäre dieselbe Frau einmal in Frankreich vergewaltigt worden. Der Konjunktiv projiziert die Bilder, aber glücklicherweise ist beides nicht passiert. Sehr bewusst zeigt Kerstin Preiwuß ganz zu Beginn von "Heute ist mitten in der Nacht" die dünne Haut zwischen einem möglichen Unglück und dem Nochmal-Davongekommen. Denn es kommen nicht alle nochmal davon. Eine Reihe von Todesfällen in ihrer Familie sorgt für ein entrücktes, angstgeleitetes Anwesenheitsgefühl der Ich-Erzählerin. Der Cousin stirbt jung an Krebs, auch der leibliche Vater erkrankt und stirbt. Der Stiefvater liegt nach einem Fahrradunfall hirntot im Koma und muss von den Angehörigen für den vollständigen Tod freigegeben werden.
Dann ist sein Kopf auf den Asphalt geknallt und zerborsten wie eine Melone, ab dann lief die Zeit wieder weiter, nachdem sie kurz angehalten hatte für diesen Augenblick. Das kann doch kein Mensch begreifen, was zwischen der Sprache und der Zeit geschieht. Leseprobe
In Kreisen bewegen sich Kerstin Preiwuß' durchgearbeiteten Sätze um die Leerstelle, die das tatsächliche Ereignis des Unglücks im Erleben und Weiterleben bildet. Es gibt den Anruf, der vom Unglück erzählt, dann folgt der Tod, aber ein Danach will sich nicht einstellen. Der Moment, in dem der Kopf ihres Stiefvaters auf die Straße schlug, entzieht sich der Erinnerung, erschafft aber gleichzeitig ein Territorium der Angst. Fortan filtert die Erwartung der nächsten Katastrophe die Lebenswirklichkeit. Ebenso verschlossen wie der Geist der Trauernden ist Kerstin Preiwuß' Sprache. Sie lässt nur soviel durch, dass wir als Leser Zusammenhänge erahnen, verbirgt jedoch zuverlässig voreilige Schlüsse.
Sehr vieles geschieht in Gedanken,
während man verharrt.
Aber die Gefühle täuschen einen nicht
über den Abgrund hinweg.
Was erlaubt es mir mit dem, was es
mir nimmt?
Leseprobe
"Heute ist mitten in der Nacht": Eine Reise ins Auge des Orkans
In einer Collage aus Gedichten, Erinnerungen, Zitaten, Briefen, grammatikalischen Tricks und Analysen einzelner Vokabeln erschafft Kerstin Preiwuß den Eindruck einer Art Tiefenzeit, die über das eigene Leben hinausgeht. "Heute ist mitten in der Nacht" ist eine Reise ins Auge des Orkans. Denn die Katastrophe regiert nicht nur die private Innenwelt der Erzählerin, sie überrollt in Form der uns allen bekannten Krankheit die gesamte Welt. Plötzlich gibt es die kollektive Angst vor dem Virus. Alle sind gleich eingesperrt auf einem kaputten Planeten. Was soll man den Kindern sagen? Wie soll man mit Kindern überhaupt schreiben? Auch davon erzählt dieser kluge, weitverzweigte Text. Denn es geht nicht nur um Krankheit, es geht auch um Gewalt. Die nächste Katastrophe hat sich lange angekündigt, jetzt ist sie da: Krieg in Europa. Plötzlich bekommt die Katastrophe Bilder, viele Bilder. Zivilisten liegen leblos auf der Straße. Ein Vater hält die Hand seines toten Kindes, dessen restlicher Körper von einer Plane bedeckt ist.
Ich will einfach nur schreiben, zur Beruhigung. Worte machen, dass ich nachts nicht schlafen kann, und ich will sie nicht murmeln müssen, die Murmeln rollen heran. Ich will einfach nur schreiben, wenn ich nachts nicht schlafen kann, dass ich nachts nicht schlafen kann, weil Sprache macht, dass ich nicht schlafen kann. Leseprobe
"Heute ist mitten in der Nacht" öffnet die Türen für die gesamte Dunkelheit unserer Gegenwart. Kerstin Preiwuß kartiert mit einer ganz eigenen Grammatik die Angst einer Zeit, in der die Zukunft vielleicht nur noch ein Konjunktiv ist.
Heute ist mitten in der Nacht
- Seitenzahl:
- 192 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Berlin
- Bestellnummer:
- 978-3-8270-1465-8
- Preis:
- 22 €