"Die engen Wasser": Elger Esser fotografiert Flusslandschaften
Es schwingt immer etwas Melancholie mit, wenn wir dem Fotografen Elger Esser auf seinen verwunschenen Pfaden entlang der französischen Flüsse folgen. Ein Bildband, der wie Balsam für die Seele wirkt.
In seiner Erzählung "Die engen Wasser" unternimmt der Schriftsteller Julien Gracq eine Reise durch die Flusslandschaften im Herzen Frankreichs. Das Buch faszinierte den Düsseldorfer Fotografen Elger Esser so sehr, dass er sich auf Gracqs Spuren machte. Mit seiner Kamera wanderte er entlang der Loire, der Èvre und der Indre. 60 Aufnahmen, die er von seinen Exkursionen mit nach Hause brachte, hat er nun zu einem Buch zusammengestellt.
Die Natur ist Elger Essers Hauptdarstellerin. Auf seinen Landschaftsfotografien wachsen Schilf und Wiesenkräuter, Sträucher und Bäume so üppig, dass sie die wenigen Häuser wie unbedeutende Nebendarsteller wirken lassen.
Eine alte Mühle in der Nähe von Beaupréau duckt sich förmlich ins Ufergrün. Vor ihren gelben Bruchsteinmauern liegt die Èvre, ein Nebenfluss der Loire, der an dieser Stelle über und über mit Seerosen bedeckt ist. Eine Weide neigt sich über das schimmernde Wasser, ihre gefiederten Blätter flirren im Sonnenlicht.
Stünde neben dem Foto nicht das Datum "2024", könnte man meinen, eine handkolorierte Aufnahme aus dem 19. Jahrhundert vor sich zu haben. Dieser Vintage-Effekt ist beabsichtigt: Seit seiner Jugend sammelt Esser historische Postkarten mit Landschaftsmotiven. Seine Kollektion, die mehrere tausend Stücke umfasst, ist eine seiner wichtigen Inspirationsquellen.
"Ich sehe mich in erster Linie von einer unbändigen Freude am Sehen getrieben", beschreibt Esser seine Motivation. Wie die Freilichtmaler, die vor 150 Jahren mit Pinsel und Palette in die Landschaft zogen, streift er mit seiner Kamera durch die Natur. "Jeder Ort verändert sich: durch Jahreszeiten, Licht, Wind, Wetter oder Ebbe und Flut."
Ähnlich wie die Impressionisten versucht Esser, die Stimmung flüchtiger Momente einzufangen. Während die Maler den ständigen Wechsel von Licht und Schatten durch schnell hingeworfene Pinselstriche auf die Leinwand bannten, arbeitet der Fotograf mit langen Belichtungszeiten. Die Unschärfen, die er dadurch erzeugt, bringen Bewegung in seine Bilder. Wir meinen zu sehen, wie die Sonnenstrahlen im Wasser glitzern oder der Wind durch die Blätter fährt.
Essers Bilder zeigen ein gefährdetes Ökosystem
Elger Esser fängt den Zauber von Landschaften ein, an denen Industrialisierung und Klimawandel spurlos vorübergegangen zu sein scheinen: Er fotografiert einen einsamen Kahn auf der Loire, Stromschnellen an der Èvre oder eine Reihe von Pappeln am winterlichen Ufer der Indre. Die kahlen Kronen hängen voller Misteln. Ein Anblick, als hätte jemand riesige Weihnachtskugeln in den Zweigen befestigt.
Man könnte seine Bilder für idealisierte Naturdarstellungen halten - ohne Bezug zur Gegenwart. Wer genau hinschaut, erkennt jedoch Details, die das Postkartenidyll konterkarieren: Misteln zum Beispiel sind Halbschmarotzer und siedeln sich vorzugsweise in Bäumen an, die durch anhaltende Trockenheit geschädigt sind. Wer das weiß, kann nicht umhin, in den pittoresken Parasiten Symbole eines gefährdeten Ökosystems zu sehen. Andere Fotos zeigen Flussbetten, die kaum noch Wasser führen, abgestorbene Nadelbäume oder Äste, die aus dem Eichenlaub ragen, wie ein "Memento mori" auf einem barocken Stillleben.
Es schwingt also immer ein wenig Melancholie mit, wenn wir Elger Esser auf seinen verwunschenen Pfaden durch das Pays de la Loire folgen. Aber vermutlich hätte der Fotograf auch nichts dagegen, dass wir sein Buch einfach nur zur Hand nehmen, um - Seite für Seite - das Glück zu genießen, mitten in der Natur zu sein.
Die engen Wasser
- Seitenzahl:
- 120 Seiten
- Genre:
- Bildband
- Verlag:
- Kerber
- Bestellnummer:
- 978-3-7356-1005-8
- Preis:
- 35 €