Autor*in Kim de l'Horizon in Frankfurt © dpa Foto: Arne Dedert/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
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AUDIO: "Blutbuch": Kim de l'Horizon und das Gefühl, willkommen geheißen zu werden (7 Min)

Über Kim de l'Horizon und das Gefühl, willkommen geheißen zu werden

Stand: 22.10.2022 06:00 Uhr

Mit dem "Blutbuch" hat Kim de l'Horizon den diesjährigen Deutschen Buchpreis gewonnen. Alexander Solloch aus der NDR Kultur-Literaturredaktion hat die*den Autor*in getroffen. Wie geht es Kim de l'Horizon einen Tag nach der Verleihung?

Welchen Eindruck macht Kim de l‘Horizon 20 Stunden danach?

Alexander Solloch: Ich habe Kim de l’Horizon gefragt: "Wie fühlt sich das denn jetzt an?" Die übliche Frage nach einem Fußballmatch. Abgesehen von dem aufscheinenden riesigen Glück, sagt Kim de l‘Horizon, sei es das wunderbare Gefühl für einen non-binär lebenden Menschen, der sich bislang am Rande der Gesellschaft gefühlt hat. Das Gefühl, jetzt so etwas wie willkommen geheißen zu werden, sei auch verbunden mit der Nominierung für den Schweizer Buchpreis. Da wird im November bekannt, an wen dieser Preis geht. Diese Auszeichnungen bedeuten insgesamt ein großes Glück für einen Menschen, der sich bislang eher am Rande gesehen habe und jetzt vielleicht auch sagen darf: "Ich bin da, das ist meine Welt und das ist meine Sicht auf die Welt!"

Deutlich gezeigt hat das Kim de l‘Horizon am Abend der Preisverleihung. Was sagt Kim zu dieser aufsehenerregenden Performance?

Solloch: "Ich habe überhaupt nichts vorbereitet", hat Kim dazu gesagt, "weil ich überhaupt nicht damit gerechnet habe, dass es passieren könnte. Vielleicht habe ich mir allenfalls zehn Prozent Gewinnchancen eingeräumt. Aber immerhin für diesen sehr unwahrscheinlichen Fall wollte ich doch insoweit vorbereitet sein, dass ich zumindest eine Haarschneidemaschine mitnehme." Denn was bedeutet das, wenn man den Deutschen Buchpreis bekommt? Das bedeutet, dass man im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, zumindest für eine gewisse Zeit - seien es auch nur einige wenige Minuten. Und Aufmerksamkeit zu bekommen, hieße dann in dem Moment eine politische Figur zu werden, sagt Kim de l‘Horizon. Das sei dann auch eine Verantwortung, diese Zeit, diese Aufmerksamkeit, die man hat, zu nutzen.

Kim habe sich in den vergangenen Wochen sehr stark mit dem Schicksal der Frauen im Iran beschäftigt und sieht da einen Zusammenhang - und das kann ich auch als Leser sagen, dass man diesen Zusammenhang sehr leicht stellen kann - zum Roman, zu "Blutbuch". Darin geht es ganz stark um die Frage, welcher Gewalt sich Menschen ausgesetzt sehen, die mit ihrer Körperlichkeit, mit ihrem Körpergefühl vielleicht nicht das vertreten, was die Allgemeinheit vertritt, die vielleicht nicht im Zentrum stehen oder die nicht mit dem Common Sense mitschwimmen. Aufgrund dieses Zusammenhangs, dieser Verbindung und der tiefen Beschäftigung mit dem Leid der Frauen im Iran, ihrer Verfolgung und Unterdrückung, dachte sich Kim: "Ich muss diese Möglichkeit nutzen, etwas tun -und sei es auch noch so wirkungslos -, aber diese zwei Minuten dürfen nicht ungenutzt bleiben."

In der Dankesrede hat Kim de l‘Horizon gesagt: "Ich denke, die Jury hat den Text auch ausgewählt, um ein Zeichen zu setzen." Was glaubst du - war die Entscheidung auch politisch motiviert?

Solloch: Es ist immer sehr schwer, in die Dynamik einer Juryentscheidung hineinzuschauen, von außen zu deuteln. Die Juryvorsitzende Miriam Zeh hat zumindest angedeutet, dass es durchaus nicht unbedingt eine einhellige Entscheidung gewesen ist. Ich schätze schon, dass da in der Jury sehr gestritten worden ist. Ich würde erst einmal sagen, dass diese Entscheidung rein aus literarischen Gründen absolut berechtigt ist und es eine gute Entscheidung ist; dass das "Blutbuch" rein aus literarischen, formalen, sprachlichen Gründen diesen Preis absolut verdient.

Natürlich: In der Wirkung ist dieser Preis auch politisch. Es ist das erste Mal im deutschsprachigen Raum, das eine non-binäre Person einen großen, wichtigen Literaturpreis bekommt. Die Pressesprecherin des DuMont-Verlags, in dem das "Blutbuch" erscheint, hat mir übrigens vor dem Gespräch mit Kim de l‘Horizon zugeraunt, es sei ja schön, wie einhellig diese Entscheidung begrüßt werde, aber man dürfe trotzdem gerade nicht ins Internet gucken. Denn wenn man in all die Foren schaue und in die ganzen Kommentare von Userinnen und Usern, dann zeigt sich dort ganz viel Hass, Ablehnung und Verachtung für Personen, die non-binär leben. Natürlich überhaupt nicht aus literarischer Kenntnis heraus, nicht aus Kenntnis dieses Buches heraus. Es ist immer wieder erschütternd, zu wie viel Hass die Menschen fähig sind - hier am Beispiel eines Menschen, der in seiner Dankesrede gesagt hat: "Es geht um die Liebe".

Was ist deine Meinung? Findest du das "Blutbuch" lesenswert? Hat es den Preis zurecht gekriegt?

Solloch: Ja, ganz unbedingt. Ich fand überhaupt, das war eine sehr starke Shortlist. Alle sechs Titel hätten den Preis verdient gehabt und ich möchte überhaupt nicht, wenn ich das "Blutbuch" so hervorhebe, in irgendeiner Weise abwertend über die anderen Titel sprechen. Fatma Aydemir hat einen tollen Roman geschrieben mit "Dschinns", handwerklich vielleicht ein bisschen konventioneller. Kristine Bilkau, unsere Hamburger Lokalmatadorin, ist auch unbedingt zu erwähnen, aber das "Blutbuch" ist eben so gewagt, so experimentierfreudig.

Kim de l’Horizon selbst sagt - und das ist vielleicht ein ganz schönes Wort, um zu begreifen, was hier passiert -: Sprache sei für sie*ihn als schreibenden Menschen so etwas wie Hexerei. Es wird also fortwährend gehext, mit Worten gespielt, Worte werden in der Luft gewirbelt, herumgedreht. Es wird etwas ausprobiert, es wird etwas gewagt. Es ist, würde ich sagen, das literarischste der sechs Bücher und es ist toll, dass der Deutsche Buchpreis, der manchmal eher darauf geachtet hat, welches Buch vielleicht am marktgängigsten ist, eins ausgewählt hat, das unter allen literarischen Kriterien wirklich einen solchen Preis, eine solche Hervorhebung verdient hat. Übrigens - das muss man immer dazu sagen, dass bloß keiner zurückschreckt, weil ich gesagt experimentierfreudig, gewagt -: Es ist von vorne bis hinten ein sehr gut lesbares Buch. Eine gute Entscheidung.

Das Gespräch mit Kim de l'Horizon hören Sie am Sonntag, den 23. Oktober, um 13 Uhr in der Sendung "Das Gespräch" auf NDR Kultur.

Das Gespräch führte Friederike Westerhaus.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Journal | 18.10.2022 | 16:30 Uhr

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