"Tausend Aufbrüche": Christina Morina und die Ost-West-Debatte
In ihrem Sachbuch "Tausend Aufbrüche - Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er Jahren" versucht die Historikerin Christina Morina, die eingefahrene Ost-West-Debatte aufzubrechen.
Sie versuchen mit Ihrem Buch, für die Ost-West-Debatte eine neue Ausgangslage zu schaffen. Oft wird nach wie vor gesagt, die Menschen würden sich aufgrund ihrer unterschiedlichen Geschichte und Demokratieerfahrung nicht wirklich verstehen. Warum ist das aus Ihrer Sicht zu kurz gedacht?
Christina Morina: Weil damit aus dem Blick gerät, dass die Dinge sowohl diesseits als auch jenseits der früheren innerdeutschen Grenze vielfältiger, differenzierter sind, als diese übliche Diskurslogik nahelegt. Ich möchte aufbrechen, wie schematisch oft über den sogenannten Westen und den sogenannten Osten gesprochen wird.
Sie haben in gewisser Weise eine politische Kulturgeschichte von unten geschrieben, haben tausende von Bürgerbriefen, Flugblättern, Pamphleten und Aufsätzen gelesen, die in der DDR und der BRD vor allem in den 80er-Jahren geschrieben worden sind: Was hat Sie an dieser Perspektive gereizt? Was stand drin in den Bürgerbriefen, was Sie erstaunt hat?
Morina: Ich habe mir die alltagspolitische Sprache der Bürgerinnen und Bürger in Ost und West angeschaut. Diese Bürgerpost ist sehr vielfältig und ganz vielstimmig, auch gerade für Ostdeutschland. Höchst politisiert wird mit den Fragen gerungen: welche Demokratie und ob überhaupt Demokratie und wie dort hinzukommen sei. Dabei entsteht ein Bild, dass die 89er-Revolution, die wir zurecht als Sternstunde der deutschen Demokratiegeschichte feiern, etwas erweitert und breiter fragt, welche Art von Demokratie, Erfahrung und Ideen eigentlich Ostdeutsche vor dem großen Aufbruch hatten und wie das mit der Geschichte seither zu tun hat.
Die Ostdeutschen gelangten nicht Demokratie-unerfahren ins westdeutsche Staatssystem - das ist eine Ihrer Thesen. Auch die Protestkultur in der Wendezeit, schreiben Sie, habe den Boden für den Aufstieg der AfD genährt. Inwiefern das?
Morina: Für viele Menschen - auch Menschen, die niemals die AfD wählen würden - ist es diese Erfahrung, sich zu politisieren, sich einzubringen, ein liberales öffentliches Gespräch über die Zukunft der Gesellschaft zu führen und sich über Demonstrationen gegen die Regierung zu wenden und damit auch Erfolg zu haben: Diese emanzipatorische Erfahrung der Straße und der Demokratie als Straßenpraxis ist etwas, was sehr konstruktiv und demokratisierend gewirkt hat. Ich glaube, da steckt auch eine Erinnerungsressource oder ein kulturelles Wissen drin, was die AfD mehr oder weniger gezielt aufgreift. Das kennen wir aus den Wahlkämpfen, insbesondere in Ostdeutschland, wo an diese regierungsfeindliche, systemstürzerische, Von-unten-nach-oben-Erfahrung angeknüpft wird.
Sie schreiben in Ihrem Buch von einer Untertanentradition. Ist das, was Sie geschildert haben, in diesem Zusammenhang zu sehen?
Morina: Die deutsche Demokratiegeschichte und die Geschichte des deutschen Staatsbürgerseins sind jahrhundertelang geprägt von einer sehr obrigkeitsstaatlichen Auffassung und einer langen Trennung des Bürgerbegriffs in den Privatbürger und in den Staatsbürger. Das ist etwas, was das geteilte Deutschland an ideengeschichtlichem und politischem, kulturgeschichtlichem Ballast aus der Vorgeschichte bis 1945 teilt. Das bricht in der Bundesrepublik nach und nach mit der nachhaltigen Liberalisierung der Gesellschaft auf - eine Mündigkeit, ein Staatsbürgerbewusstsein, entsteht, das diesen Staat als Einrichtung der Bürger füreinander begreift. So hat es Weizsäcker mal formuliert. Diese Erfahrung konnte man in der DDR selbstverständlich nicht machen. Da findet sich in den Briefen das Ringen um Mündigkeit, das Einfordern einer mündigen, gleichberechtigten Mitsprache als eines der zentralen Motive - und gewissermaßen zugleich auch mit der SED-Herrschaft eine Fortführung dieser Untertanentradition.
Wenn man ein paar Jahrzehnte zurückschaut: Es haben sich viele Bewohner der DDR mit ihrem Land und dessen volksdemokratischen Idealen identifiziert, sind dem Staat und den Institutionen gegenüber aber skeptisch geblieben. Ist diese Skepsis im Osten weiterhin da?
Morina: Wenn man in Linien und Kontinuitäten denken möchte? Das ist für Historikerinnen und Historiker ein schwieriges Terrain. Ich glaube, man kann plausibel argumentieren, dass ein Teil dieser spezifischen ostdeutschen Demokratieanspruchsgeschichte eine Wirkung hatte - auch auf Seiten des SED-Versprechens einer sozialistischen Menschengemeinschaft, einer Volksrepublik, einer Volksdemokratie, in der keine Klassenherrschaft gilt, sondern alle teilhaben. Der Sozialismus oder die sozialistische Demokratie haben als Idee doch eine breite gesellschaftliche Unterstützung gefunden. Menschen haben tagtäglich auch außerhalb der Partei versucht, dem irgendwie gerecht zu werden, haben gleichzeitig aber immer gespürt, dass es eine riesige Kluft gab zwischen dem, was die Partei postulierte und dem, was real galt. Das führte dazu, dass die Institution, die staatlichen Stellen, die Propaganda von oben und alles, was mit Partei verbunden war, auf höchstes Misstrauen, Ablehnung und Widerstand gestoßen ist.
Das Gespräch führte Philipp Cavert.