Anne Rabe: Mit Demut und Dankbarkeit in den 3. Oktober
Anne Rabe steht mit ihrem Post-DDR-Roman "Die Möglichkeit von Glück" auf der Shortlist des Deutsches Buchpreises. Im Gespräch erzählt sie von ihrer Sicht auf den Tag der Deutschen Einheit und ihrem Aufwachsen in der DDR.
Die Dramatikerin und Autorin Anne Rabe analysierte in ihrem Debütroman "Die Möglichkeit von Glück" Familienstrukturen und übt Systemkritik. Der Post-DDR-Roman steht auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Das Buch fällt einerseits in eine Zeit der Ostalgie, andererseits aber auch in eine Zeit, wo sich viele die Frage stellen: Was ist mit dem Osten eigentlich los?
Frau Rabe, mit welchem Gefühl blicken Sie persönlich auf den Tag der Deutschen Einheit? Fühlt er sich wirklich wie ein Feiertag an?
Anne Rabe: Ich blicke auf diesen Tag immer mit einer gewissen Demut oder auch Dankbarkeit. Nicht so sehr wegen dieses Datums, denn es ist natürlich immer höchst umstritten gewesen, wann dieser Tag nun stattfindet. Aber der Tag der Deutschen Einheit ist schon ein besonderer Tag für mich. Ganz klar ist, dass mein Leben deutlich anders verlaufen wäre, wenn es diesen Tag nicht geben würde.
Sie selbst waren drei Jahre alt, als die Mauer fiel. Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Sie das Aufwachsen in der DDR als sehr autoritär erlebt haben.
Rabe: Es gab autoritäre Staatsstrukturen, die sich auch weiter fortgesetzt haben in der Pädagogik, in dieser Idee, einen neuen Menschen zu formen, eine sozialistische Persönlichkeit. Das widerspricht natürlich dem individuellen Drang eines jeden Menschen - der ist dann autoritär eingehegt worden. Das hat auch nach 1989 nicht aufgehört, weil die Menschen ja die gleichen waren und die gleichen Mittel zur Verfügung hatten. Es hat etwas gedauert, bis man da zu einer Reflektion gekommen ist.
Die Debatte um den Osten, um diktatorische Strukturen und deren Folgen ist noch lange nicht beendet. Da sind Rechtsextremismus, der Zuspruch zur AfD und die Suche nach der Verbindung zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Welche Motivation hatten Sie persönlich, dieses Buch rauszubringen?
Rabe: Tatsächlich war es 2019 so, dass wir schon einmal vor einer ähnlichen Situation standen, politisch vielleicht noch nicht so scharf wie jetzt, dass in einem der ostdeutschen Bundesländer die AfD zur stärksten Kraft zu werden drohte. Davon fühlte ich mich betroffen und dachte: Das kann ja wohl nicht wahr sein. Gleichzeitig kam es mir so sehr vertraut vor, auch diese Gewalt auf den Straßen. Das war etwas, was ich eben seit meiner Kindheit im Osten kenne. Dann habe ich begonnen, mir darüber Gedanken zu machen: warum das so ist, wie wir eigentlich aufgewachsen sind, wo wir herkommen. Ich habe mit alten Schulfreunden, mit anderen Menschen in meinem Alter gesprochen und bin auf Strukturen gestoßen, wo ich sagen würde: Okay, da gibt es eine Grundlage in der Vergangenheit für diese Brutalität und dieses Fordern nach autoritären Strukturen und Autoritarismus.
Wie könnte man denn die Aufarbeitung, wie Sie sie anmahnen, besser vorantreiben?
Rabe: Es gibt einen Widerspruch in der Aufarbeitung der DDR-Geschichte: Sie ist einerseits wahnsinnig gut erforscht und wird auch weiterhin gut erforscht. Gleichzeitig ist aber ganz viel von diesem Wissen nicht in das gesellschaftliche Bewusstsein vorgedrungen. Oder es gab darüber keine Auseinandersetzungen. Es gibt dann immer nur diese Fraktionen, die sagen: "Das stimmt nicht" oder "das stimmt doch". Man steht sich verhärtet gegenüber. Es gibt kein richtiges Gespräch. Dieser Wissenstransfer von der Wissenschaft in die gesellschaftliche Diskussion müsste stattfinden. Ganz viel müsste auch ganz konkret in den Schulen geschehen.
In den vergangenen Wochen hat ein Streitfall für Brisanz gesorgt. Im Kern geht es um die Frage, wie korrekt eigentlich eine literarische Erinnerung an die DDR sein muss. Der Schriftsteller Ingo Schulze hatte dem S. Fischer Verlag eine Liste geschickt mit, aus seiner Sicht, Unkorrektheiten. Es geht da um den Roman ihrer Schriftstellerkollegin Charlotte Gneuß, der im Dresden der 70er-Jahre spielt. In "Gittersee" nimmt die Protagonistin Karin ein Bad in der Elbe. Schulze merkt an, in dieser "Drecksbrühe" habe man 1976 gar nicht schwimmen können. Gleichzeitig kritisierte er, dass die Ostdeutschen nicht das Wort "lecker" benutzen würden. Genauso habe wohl auch niemand "Plastiktüte" gesagt. Haben wirklich alle Ostdeutschen vom "Plastebeutel" gesprochen? Und hat Ingo Schulze Recht mit seiner Kritik?
Rabe: Ich finde diesen Vorgang unglaublich. Das ist ehrlich gesagt eine ziemliche Frechheit von dem Kollegen Schulze. Keine Ahnung, ob nicht auch irgendwer Plastiktüte gesagt hat, ich habe das jedenfalls gesagt. Aber darum geht es hier nicht. Es geht darum, dass hier etwas durchgestochen wird, etwas zu einer Jury getragen wird. Da muss ich sagen: Meine Güte, und das mit einem DDR-Hintergrund. Dass einem das so leicht von der Hand geht, stellt doch ein paar Fragen. Man sieht hier jedenfalls: Wenn Schulze sagt, in dieser Drecksbrühe hat man nicht gebadet, entsteht kein Gespräch. Sondern es gibt ein "so war’s" und der andere sagt "nein, es war aber so." Dazwischen liegt irgendwie nichts. Nicht einmal die Fiktion wird zugelassen.
Und natürlich dürfen auch West- oder Bundesdeutsche über den Osten schreiben.
Rabe: Aber selbstverständlich. Ich dürfte auch über das Mittelalter schreiben. Wir haben auch alle eine Einstellung zur Nazizeit, obwohl wir nicht dabei waren. Ich finde es problematisch, Recherche zu diskreditieren. Man wirft sonst gerade jungen Autor*innen oft vor, dass sie sich nur um sich selbst drehen würden, nur Nabelschau betreiben würden. Dann geht eine los, macht Recherche und spricht über etwas, was sie nicht aus erster Hand erlebt hat. Und dann wird ihr das als mangelnde Authentizität vorgeworfen. Das finde ich recht schwach.
Das Gespräch führte Philipp Cavert.