Studie untersucht Zersetzungsmaßnahmen in der DDR

Stand: 03.10.2023 19:30 Uhr

Das Unrecht der SED-Diktatur ist auch 33 Jahre nach der Wiedervereinigung nicht vollständig aufgeklärt. Ein Forscherteam der Universität Rostock untersucht die gesundheitlichen Langzeitfolgen von sogenannten Zersetzungsmaßnahmen. Eine Kostümbildnerin berichtet.

von Carolin Kock

Mode ist eine Leidenschaft von Anna Haase, eine andere ist die Oper. Im Schweriner Staatstheater sieht sie als Schülerin ihre erste, den "fliegenden Holländer." In Berlin studiert sie Bekleidung und Sprachen, durch Zufall bekommt sie Anfang der 80er-Jahre eine Anstellung an der Komischen Oper als leitende Kostümbildnerin.

Doch diese Arbeit wird ihr schnell zu eng: "Ich wollte mehr und in der DDR wurde die Käseglocke immer enger. Wenn man sich mit Mode beschäftigt und man hat Mailand, Paris und London nie gesehen, ist das ein schwerer Stand. Man denkt: Jetzt vergeht dein Leben und du hast nichts davon gehabt", erzählt Anna Haase.

Von der Kostümbildnerin zur Toilettenfrau

Für mehr als 30 Ankleider ist Anna Haase damals zuständig - solange bis sie 1985 einen Ausreiseantrag stellt. Das SED-Regime will sie nicht gehen lassen. Immer wieder wird sie dazu gedrängt, ihren Antrag zurückzuziehen und sie wird auch bei ihrer Arbeit in der Oper unter Druck gesetzt: "Dann musste ich Strafarbeiten durchführen, musste 2.500 Paar Trikots von Balletttänzern auf Laufmaschen und Löcher untersuchen."

Als sie damit fertig ist, teilt ihr die Personalabteilung mit, dass es keine andere Arbeit mehr für sie gebe, erzählt Anna Haase: "Ich war dann nur noch Garderoben- und Toilettenfrau." Auch ihr Lohn wird drastisch gekürzt, für Anna Haase geht es damit schlicht ums Überleben.

Stasi-Akten belegen Zersetzung nach Plan
Sonnhild und Wolfgang von Rechenberg lesen Akten, die die Stasi über sie angelegt hat. © NDR Foto: Screenshot

Stasi-Akten belegen Zersetzung nach Plan

In Parchim erlebte eine Familie, wie die Staatssicherheit der DDR ihr Leben manipulieren wollte. Die Stasi-Akten offenbaren die perfiden Methoden. mehr

Zersetzung in der DDR - wenn die Stasi Schicksal spielte

Wie Tausende andere wird Anna Haase so durch das DDR-Regime "zersetzt". Ab Mitte der 70er-Jahre verfolgt das Ministerium für Staatssicherheit die Strategie, politische Gegner und viele Ausreisewillige nicht zu verhaften, sondern psychisch mürbe zu machen.

Die Richtlinie 1/76 beschreibt sogenannte Zersetzungsmaßnahmen. Durch Bespitzeln und Abhören sammelt das MfS oft intime Informationen, um damit systematisch den Ruf einer Person zu schädigen oder - und auch so steht es in der Richtlinie - private und berufliche Misserfolge zu inszenieren. Für die Betroffenen spielt die Staatssicherheit damit Schicksal. Oft erfahren sie erst nach dem Mauerfall durch einen Blick in ihre Stasi-Akten, was ihnen widerfahren ist.

Rostocker Studie sucht noch Teilnehmende

Ein Rostocker Forscherteam untersucht erstmals die gesundheitlichen Folgen solcher Zersetzungsmaßnahmen. Ein Problem: Viele wissen nicht, dass sie Opfer sind, denn Belege finden sich meist nur in den Stasiakten, sagt die Demografin Anne Maltusch von der Uni Rostock. "Es gibt viele, die vielleicht gar nicht ihre Akten beantragt haben. Es gibt viele, die sich mit dem Thema auch nicht mehr auseinandersetzen wollen und es gibt natürlich auch viele, deren Familien gar nicht wissen, was ihnen in der DDR widerfahren ist."

Weitere Informationen
Zellentrakt des ehemaligen Stasi-Untersuchungsgefängnisses in Schwerin © dpa Foto: Jens Büttner

Hilfe und Beratung für DDR-Opfer weiterhin gefragt

Auch 33 Jahre nach dem Ende der DDR suchen viele Menschen noch Hilfe und Beratung, weil sie Opfer der SED-Diktatur geworden sind. mehr

Betroffene leiden unter Depressionen und Angststörungen

Für die Studie werden derzeit noch Teilnehmende gesucht. Doch viele Betroffene leben heute zurückgezogen und sind nicht so vernetzt, wie andere Opfergruppen der SED-Diktatur - wie etwa Betroffene von Zwangsdoping oder Menschen, die in der DDR zu Unrecht inhaftiert wurden.

Mehr als 40 Betroffene von Zersetzungsmaßnahmen wurden für die Studie bisher befragt. Ihre Erlebnisse haben sich unterschiedlich ausgewirkt: "Viele Betroffene leiden bis heute unter Depressionen und unter Angststörungen, aber auch unter sozialen Phobien. Auch die Angst vor Ämtern und vor Autoritäten spielt häufig eine Rolle", erklärt Anne Maltusch. Aber sie habe in den Befragungen auch das genaue Gegenteil erlebt. Viele Betroffene erklären, dass die Erlebnisse sie sogar gestärkt und sie innerhalb der Familien noch enger zusammengeschweißt hätten. Viele würden sich auch erneut gegen das Regime stellen.

"Aufarbeitung ist oft eine Floskel"

Bei Anna Haase ist es etwas von beidem. Ihre Erlebnisse in der DDR haben sie bis heute im Alltag zwar misstrauischer, aber auch stärker gemacht, sagt sie. Die gesellschaftliche Aufarbeitung empfinde sie häufig als Floskel. "Ich habe mir viele Gedanken über Aufarbeitung und Verarbeitung gemacht. Ich glaube, dass es nicht geht. Was wir erlebt haben, sitzt wie Mehltau auf unserer Seele. Wir müssen damit leben und werden es mit ins Grab nehmen."

Mode und Oper sind nach dem Mauerfall immer noch die Leidenschaften von Anna Haase - doch keine beruflichen mehr. Seit Jahren arbeitet sie als Reiseführerin in Berlin. Sie will heute vor allem aufklären und deshalb ihre Geschichte auch in Zukunft immer wieder erzählen.

Weitere Informationen
Vor einem Fischstand auf dem Hamburger Fischmarkt stehen viele Kunden. © picture-alliance / dpa | Markus Beck

Zeitzeugen-Projekt: Wie DDR-Flüchtlinge Hamburg erlebt haben

In fünf Audiowalks und einer Ausstellung im Unimuseum erzählen 18 Menschen ihre Geschichte vom Ankommen in der Hansestadt. mehr

Vor dem Hamburger Rathaus steht der Stand des Bundesrates © picture alliance/dpa | Franziska Spiecker Foto: Franziska Spiecker

Hamburg erwartet Hunderttausende zum Einheitsfest

Als Vorsitzland im Bundesrat richtet Hamburg die zentrale Feier zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober aus. Am Montag wird das Bürgerfest eröffnet. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Der Morgen | 02.10.2023 | 06:40 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Mode

Medizinische Forschung

DDR

Oper

Eine Grafik zeigt einen Lorbeerkranz auf einem Podest vor einem roten Hintergrund. © NDR

Legenden von nebenan: Wer hat Ihren Ort geprägt?

NDR Kultur erzählt die Geschichte von Menschen, die in ihrer Umgebung bleibende Spuren hinterlassen haben - und setzt ihnen ein virtuelles Denkmal. mehr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung © NDR Kultur

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mann und Frau sitzen am Tisch und trinken Tee. © NDR Foto: Christian Spielmann

Tee mit Warum - Die Philosophie und wir

Bei einem Becher Tee philosophieren unsere Hosts über die großen Fragen. Denise M‘ Baye und Sebastian Friedrich diskutieren mit Philosophen und Menschen aus dem Alltag. mehr

Mehr Kultur

Charlie Hübner sitzt an einem Tisch. © Thomas Aurin

Charly Hübner als wandelbarer Antiheld in "Late Night Hamlet"

Munteres Late Night Geplauder trifft auf Shakespeare-Drama - so das Setting für den Solo-Abend im Schauspielhaus Hamburg. mehr