Zeitzeugen-Projekt: Wie DDR-Flüchtlinge Hamburg erlebt haben
Zum Tag der Deutschen Einheit erzählen ehemalige DDR-Flüchtlinge beim multimedialen Projekt "Orte der (Un)Sichtbarkeit" von ihrem Ankommen in Hamburg. Fünf Audiowalks und eine Ausstellung im Universitätsmuseum laden zum Entdecken ein.
"Ich war im dritten Monat. Und im Kofferraum meines Mannes bin ich dann geflüchtet." Es ist der 1. September 1973, als die damals 25-jährige Evelyn in den Kofferraum ihres Mannes Peter klettert. Sie will nach sechs Jahren Beziehung endlich mit dem gebürtigen Hamburger gemeinsam leben und eine Familie gründen.
"Der Fischmarkt war ein Sehnsuchtsort"
Die Flucht gelingt. Heute ist Evelyn 76, hat mit ihrem Peter drei Kinder und feiert demnächst ihre goldene Hochzeit. Für sie ist der Fischmarkt der Ort, der für immer Ankommen in Hamburg bedeutet: "Das war der Sehnsuchtsort für mich. Allein die Tatsache, dass man alles bekommen konnte, was man in der DDR nicht kriegte - unter anderem Bananen."
Eben diese Früchte sind es, die den Fischmarkt für Evelyn unvergesslich gemacht haben: "Die Leute traten auf die Bananen, die von den Ständen geworfen wurden und auf dem Boden gelandet sind. Da bin ich in Tränen ausgebrochen und habe zu meinem Mann gesagt: Das kann ich nicht aushalten." Es sind diese ganz persönlichen Geschichten, die dieses Projekt so fühlbar machen. Es ist Geschichte zum Anfassen.
Ein Kontorgebäude steht für Hoffnung
Die Trostbrücke 1: ein Kontorgebäude, an dem man einfach so vorbeiläuft. Für viele Flüchtlinge aus dem Osten war dies ein Hoffnungsort: Der Verein Flüchtlings-Starthilfe half mit Erstausstattungen bis hin zu Möbeln und praktischen Tipps für Kontakte. Manche dieser Orte gibt es heute so nicht mehr. Zum Beispiel die Hafenschuppen 53 und 54. Hier lag 1965 das Schiff von Manfred. "In der Nacht vom 23. auf 24. Januar bin ich von Bord gesprungen", erzählt er. "Ich hatte mich schon angezogen mit Pullover, Lederjacke und einem Wintermantel. Da sah ich aus wie ein kräftiger Seebär." Seine Flucht gelang.
Für viele ist der Hafen heute noch ein wichtiger Ort der Erinnerung. Theresa Hertrich, eine der Projektleiterinnen, zur Idee dieser Audio-Stadttour: "Wie kann man die Geschichte von SED-Unrecht und DDR-Diktatur in einer Stadt wie Hamburg gerade jungen Menschen näherbringen? Als Ansatz haben wir uns für die persönlichen Erinnerungsorte von Menschen, die aus der DDR nach Hamburg gekommen sind, entschieden."
Schokolade, Zahnpasta, Kaffee: So roch der Westen
Die Idee funktioniert. Durch die persönlichen, emotionalen Erinnerungen lässt sich das Leben in der einstigen DDR nachspüren, an teilweise völlig unspektakulären, unerwarteten Orten - und an Gerüchen. Denn der Westen roch für alle ganz besonders, wie Cornelia und Grit erzählen. "Ich denke, das kennen alle ehemaligen Ossis, die ein Westpaket bekommen haben", erzählt Cornelia. "Das war ein Geruch, der war so einmalig, aus Schokolade, Zahnpasta und Kaffee. Aber diesen Geruch gibt es nicht mehr, ich würde ihn so gerne nochmal inhalieren!" Und Grit verrät: "Ich gehe bis heute gerne in Budni oder Rossmann, weil ich denke: Boah, es riecht nach Westpaket!"
"Orte der (Un)Sichtbarkeit": Ausstellung vom 3. Oktober bis 24. März
Die Audiotouren über die unsichtbaren Orte der DDR Geschichte in Hamburg mit vielen Hintergrundinformationen kann man erwandern, aber auch einfach nur anhören. Das geht über eine App oder direkt auf der Webseite des Projekts "Orte der (Un)Sichtbarkeit". Die kleine Ausstellung ist im Universitätsmuseum im Hauptgebäude an der Edmund Siemers Allee 1 vom 3. Oktober an und noch bis zum 24. März 2024 zu sehen. Der Eintritt ist frei.