Christina Morina © imago

Morina: "Idee einer innerdeutschen Einheit ist utopisch"

Stand: 02.10.2020 15:54 Uhr

Am 3. Oktober feiern wir zum 30. Mal die deutsche Wiedervereinigung - für die Menschen im Osten markiert dieses Datum eine tiefe Zäsur. Ein Gespräch mit der Historikerin Christina Morina.

Frau Morina, Sie haben den 3. Oktober 1990 nicht nur selbst hautnah erlebt, sondern auch intensiv untersucht. Was war das für eine Zäsur, die da stattgefunden hat - positiv, aber auch negativ?

Christina Morina: Der 3. Oktober - ein Tag, der so ein bisschen zufällig zustande gekommen ist - war im Grunde der Endpunkt einer total rasanten Entwicklung, die mit dem Mauerfall begonnen hat und die überraschend schnell die Vereinigung der beiden deutschen Staaten gebracht hat. Die eigentlichen Weichenstellungen haben schon davor stattgefundenen. Insofern ist der Tag selbst der offizielle Deckel auf diesen Prozess, der da in Gang gekommen ist und der vielfältige Folgen hatte.

Viele Ostdeutsche haben insbesondere die Treuhandgesellschaft für vieles verantwortlich gemacht, unter anderem den Verlust der Arbeitsplätze. Kann man das eigentlich aus historischer Sicht heute so stehen lassen?

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Morina: Man muss die Ereignisgeschichte von der Wahrnehmungsgeschichte trennen. In der Wahrnehmung war das für die Ostdeutschen eine radikale Transformation, ein komplett umgekrempeltes Leben. Für viele gab es Arbeitslosigkeit - aber sehr viele Menschen sind auf die Füße gefallen, haben eigene Unternehmen gegründet, sind abgewandert und haben woanders ihre beruflichen Ziele erreichen können. Sie sind also gut gelandet im vereinigten Deutschland. Da muss man sich die Zahlen genau angucken.

Aber die Art und Weise, wie dieser Prozess durchgezogen worden ist, mit welchen Interessen und Nichtinteressen damals gespielt worden ist, wie die Ostdeutschen daran beteiligt waren oder auch nicht - da beginnen wir erst als Historikerinnen und Historiker auf der Ereignisebene genauer hinzuschauen - da ist die Geschichte noch nicht zu Ende erzählt. Fakt ist, dass das ein tiefer Einschnitt war, aus dem die Ostdeutschen aber insgesamt besser herausgekommen sind, als oft zugestanden wird.

Eines der obersten Ziele war die Herstellung der inneren Einheit. Sie haben nun einen Aufsatz verfasst, in dem Sie einen Abgesang auf genau diese Forderung anstimmen. Das wundert mich sehr. Warum machen Sie das?

Morina: Gemeinsam mit einer Kollegin sprechen wir da von der Rede von der inneren Einheit, und nicht von der inneren Einheit an sich - was auch immer diese sein soll. Das ist genau die Frage, die wir da stellen. Diese Idee, dass es so etwas wie eine innere, halbwegs homogene innerdeutsche Einheit gibt, war von Anfang an ziemlich utopisch oder visionär, auf eine Art und Weise, dass man sich fragt, ob sie eigentlich jemals erreicht werden kann. Was ist eigentlich das Maß, mit dem man das misst, und worauf zielt das eigentlich hin? Über die Jahrzehnte spielt diese Rede von der inneren Einheit politisch immer eine eminente Rolle. Zu den großen Jahrestagen wird immer gemessen, und wir fallen dann sehr schnell sehr deutlich zurück auf rein materielle Faktoren, wie hoch das Maß der inneren Einheit ist. Dabei kann man den Blick auch anders richten.

Wenn man sich zum Beispiel den Kulturbereich anguckt, dann gibt es inzwischen so viele ost-westlich verhandelte Kunstwerke, Kunstwerke die zum Beispiel von Westdeutschen geschaffen wurden und die ostdeutsche Themen verhandeln. Oder auch ostdeutsche Themen, die nicht nur auf Ostdeutschland begrenzt sind, sondern globale Fragen stellen. Ich würde sagen, dass gerade in dem Bereich eine gemeinsame Verständigungsform entstanden ist, die mir in diesen Diskussionen zu oft irrelevant bleibt.

Heutzutage - das wird in wichtigen Reden immer wieder angedeutet - geht es nicht mehr um eine deutsch-deutsche innere Einheit, sondern auch um das Neu-Denken des gesellschaftlichen Zusammenhalts in Deutschland, das inzwischen nicht mehr nur aus Ossis und Wessis, sondern aus sehr vielen, aus unterschiedlichen Kontexten und Herkünften zugereisten Menschen besteht. Deshalb ist diese innere Einheit als Schlagwort oder als Utopie inzwischen etwas veraltet. Wir sollten uns überlegen, ob wir darüber auch anders sprechen können und damit dieses globale, vielfältige Deutschland, das wir heute sind, ein bisschen besser treffen.

Aber wie erklären Sie sich dann, dass sich insbesondere in Ostdeutschland so viele Menschen abgehängt fühlen? Sehen sich diese Menschen nicht bestätigt, wenn Sie einen Abgesang auf die innere Einheit anstimmen?

Morina: Das gibt es natürlich, und ich will das auch nicht abtun. Aber am Ende ist doch die Frage, ob es nicht gerade gut ist, eine innere Vielfalt zu haben und auf diese zu bestehen. Das machen auch manche Ostdeutsche. Viele Ostdeutsche haben aber auch recht eigensinnige politische Mentalitäten und Anschauungen, die sich in einem sehr eigensinnigen Wahlverhalten niederschlagen. Man kann sich fragen, ob das nicht eine Folge dieser vermeintlich großdeutschen inneren Einheit ist, die man da anstrebt. Eine Ursache dafür, warum sich Menschen in Ostdeutschland weniger mit der bundesdeutschen Demokratie identifizieren, ist, dass sie noch nicht in dem Maße ihre eigene geworden ist, wie das für die Westdeutschen der Fall ist, weil man dort mehr Zeit hatte. Da spielen Demokratie-, Partizipationsverständnis und Wertevorstellungen eine Rolle, die in Ostdeutschland tief geprägt sind von dieser lange versuchten Idee eines Sozialismus. Viele wollten das in der Realität so nicht, aber dieses Ideal hat die Gesellschaft über mehrere Generationen hinweg geprägt. Das, was davon übrig geblieben ist, hat keinen richtigen Ort in unserem gesellschaftlichen Selbstverständigungsprozess, den wir heute oft führen, oder ist zu wenig repräsentiert. In diese Lücken schlagen andere effektiv rein, und das zu adresseieren ist nach wie vor eine große Herausforderung.

Das Interview führte Jürgen Deppe.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Journal | 02.10.2020 | 18:00 Uhr

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