Annie Ernaux: Schreiben, um das eigene Geschlecht zu rächen
Schriftstellerin Annie Ernaux hat in Schweden den Literaturnobelpreis 2022 erhalten. Die 82-Jährige ist die erste französische Frau, die mit dem bedeutendsten Literaturpreis ausgezeichnet wird.
Seit Oktober ist klar, dass der Literaturnobelpreis an die Autorin Annie Ernaux geht. Am Sonnabend wurden die Nobelpreise nun feierlich verliehen.
Die Moment der Nobelpreisverleihung am 10. Dezember 2022 in Stockholm
Annie Ernaux: Literatur ist ein Raum der Emanzipation
In ihrer Nobelpreisrede, die Ernaux bereits am Mittwoch gehalten hat, erzählte sie von ihrer Kindheit in einer Unterschichtenfamilie, wie sie sich durch ihr Studium hocharbeitete, von ihrem Leben als Frau und Mutter und natürlich von ihrer Arbeit. "Seit ich lesen konnte, waren Bücher meine Begleiter und das Lesen war meine natürliche Beschäftigung außerhalb der Schule", berichtet die Autorin. Ihre Mutter habe das gefördert - sie habe es lieber gesehen, dass die Tochter las anstatt zu nähen oder zu stricken.
Ernaux berichtet, wie sie das Schreiben als Weg fand, die Realität zu transformieren. Jedoch auch, wie die gesellschaftlichen Erwartungen an eine Frau sowie das Leben als Ehefrau, Mutter, Hausfrau und Lehrerin sie oft vom Schreiben abgehalten haben. Die Literatur sei jedoch ein Raum der Emanzipation gewesen: "Die Literatur war eine Art Kontinent, den ich meinem sozialen Umfeld unbewusst gegenüberstellte."
Obwohl Frankreich das Land mit den meisten Literaturnobelpreisträgern ist, war bislang noch nie eine Frau unter den Ausgezeichneten. Annie Ernaux gehört seit Jahren zu den erfolgreichsten Schriftstellerinnen Frankreichs und ist auch beim Publikum sehr beliebt. In der Begründung des Nobelpreiskomitees heißt es: Annie Ernaux bekomme den Preis für "ihren Mut und ihre klinische Scharfsinnigkeit, mit der sie die Wurzeln, Entfremdung und die kollektiven Zwänge persönlicher Erinnerungen aufdeckt."
Annie Ernaux: "Ethnografin ihrer selbst"
Annie Ernaux bezeichnet sich selbst als "Ethnografin ihrer selbst" und blickt in ihren Büchern auf ihre eigene Vergangenheit zurück. Dabei reflektiert sie auch die Rolle der Frau in der französischen Gesellschaft.
Eines von Ernaux' bekanntesten Werke ist der Roman "Die Jahre", der sich durch eine autofiktionale Erzählhaltung auszeichnet. Darin erzählt sie ihr Erwachsenwerden als Geschichte einer Emanzipation. Der Rückblick auf das eigene Leben verdichtet sich zu einem soziologischen Blick auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Erinnerungen einer Frau, ausgehend von ihrer Kindheit im provinziellen Frankreich bis in die heutige Zeit: Schulhofszenen, Familienzusammenkünfte, Moden, Konsumverhalten, sprachliche Marotten, politische Ereignisse und der sich wandelnde Umgang mit Sexualität.
Steiniger Weg zur Schriftstellerin
Ernaux wuchs in einem kleinen Dorf in der Normandie in bescheidenen Verhältnissen auf. Sie besuchte ein Gymnasium, studierte, promovierte, arbeitete als Lehrerin und später als Hochschuldozentin. Ihr Weg zur Schriftstellerin sei lang und mühsam gewesen, urteilte die Schwedische Akademie in ihrer Begründung.
In ihrem 2021 erschienenen Roman "Das Ereignis" erzählt sie die Leidensgeschichte einer jungen Frau, die in den 1960er-Jahren in Frankreich illegal abtreiben will. Zuletzt veröffentlichte der Suhrkamp Verlag Annie Ernaux' Werk "Das andere Mädchen" auf Deutsch. Ein Brief an ihre unbekannte Schwester, die noch vor ihrer Geburt verstorben war.
Annie Ernaux ging nicht ans Telefon
Vor der Bekanntgabe im Oktober 2022 konnte die Schwedische Akademie die Autorin telefonisch nicht mehr erreichen. Die Entscheidung des Komitees wird alljährlich extrem geheim gehalten - erst kurz vor der Bekanntgabe wird die Preisträgerin informiert. Erreicht hat Annie Ernaux die Neuigkeit nach der Bekanntgabe aber schnell. Im Telefon-Interview beim schwedischen Fernsehsender SVT sagte sie: "Ich empfinde das als große Ehre. Für mich ist das auch eine große Verantwortung, dass ich mich - nicht nur in meiner Literatur - für eine Form von Richtigkeit und Gerechtigkeit in der Welt einsetze."
Reaktionen der deutschsprachigen Zeitungen
"Die Sezierende", "die Archäologin in eigener Sache", "die Ethnolgin ihrer Selbst", "die Unbeugsame die stolze Feministin", so beschreiben die Feuilletons die Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux. In der Süddeutschen Zeitung findet sich ein hymnischer Satz: "Ihre Art von sich selbst zu sprechen, hat die Welt verändert". Sandra Kegel kommentiert in der FAZ, es sei doch eine kleine Überraschung, dass sich Stockholm mit der Wahl explizit zu keiner allzu offensichtlichen, an der politischen Aktualität ausgerichteten Intervention hinreißen lassen wollte. Und Paul Jandl fragt sich in der Neuen Zürcher Zeitung: "Wie passt das eigentlich zusammen: der Literaturnobelpreis das ganze Brimborium, diese anachronistisch hochpolierte Veranstaltung und dann Annie Ernaux, die über das glanzlose Leben schreibt?".
Die Preisträgerinnen und Preisträger der vergangenen Jahre
In den vergangenen Jahren hat das Nobelpreis-Komitee häufiger für Überraschungen gesorgt. 2021 wurde der vergleichsweise unbekannte tansanische Schriftsteller Abdulrazak Gurnah ausgezeichnet. 2020 erhielt die US-Poetin Louise Glück den Preis. Annie Ernaux war dagegen seit längerem als eine mögliche Anwärterin für den Literaturnobelpreis gehandelt worden.