"Demokratie braucht Religion" - Gespräch mit Hartmut Rosa
Wohin treibt unsere Gesellschaft? Die Herausforderungen sind groß, die Zukunft scheint düster. Helfen könnte bei der Krisenbewältigung die Religion - sagt zumindest der Soziologe Hartmut Rosa.
Die großen christlichen Kirchen sind in der Krise - die Gründe: vielfältig. Klar ist jedoch: Noch nie waren so wenige Menschen in Deutschland Mitglied in der evangelischen oder der katholischen Kirche wie heute. Kirche - für viele ist das ein aus der Zeit gefallenes Auslaufmodell. Da überrascht es, wenn ausgerechnet ein Soziologe sagt: "Demokratie braucht Religion."
Hartmut Rosa ist bekannt für seine messerscharfen Analysen der "beschleunigten Gesellschaft" und der daraus entwickelten "Resonanztheorie". Menschen, so seine Grundthese, müssten wieder mehr mit anderen und mit der Welt in Beziehung treten. Und an dieser Stelle könnten und müssten die Kirchen eine wichtige Rolle übernehmen. Wie die aussehen könnte und inwiefern die Krise der christlichen Kirchen in Deutschland eng zusammenhängt mit der Krise der Demokratie, erläutert der Soziologe Hartmut Rosa im Gespräch. Für ihn selbst ist das Musizieren in einer Kirche übrigens ein "perfekter Resonanzmoment".
Herr Rosa, Sie sind Soziologe und kein Theologe. Trotzdem treibt Sie das Thema Religion sehr um. Wo genau haben Sie mit Ihren Überlegungen angesetzt?
Hartmut Rosa: Ich habe mit der Krisendiagnose angesetzt, eigentlich mit einer doppelten Krisendiagnose: Dass in unseren westlich etablierten Demokratien ein Problem Einzug gehalten hat, ist ganz leicht zu diagnostizieren: Trump in den USA, Brexit in England, Meloni in Italien, Macron in Frankreich, AfD und jetzt auch BSW in Deutschland. Das scheint massive Herausforderungen für die Demokratie darzustellen - und nicht nur Herausforderungen, sondern auch Anzeigen, dass da was nicht stimmt.
Genau das Gleiche kann man auch über die Kirchen sagen: Denen laufen die Menschen weg. Und selbst die, die kommen, haben oft das Gefühl: Eigentlich geht es mich nichts mehr an, das sagt mir einfach nichts mehr. Also habe ich danach gesucht, ob es da möglicherweise einen Zusammenhang gibt, und bin da resonanztheoretisch herangegangen, bin dann aber auch über die Krisendiagnose der Gesellschaft, die ich im Buch "Beschleunigung" entwickelt hatte, dazu gekommen, dass wir es eigentlich mit einer Krise der Anrufbarkeit zu tun haben: dass menschliches Leben gelingt und Politik gelingt, wenn Menschen einem möglichen Anruf von außen offen eingestellt sind. Die These lautet: Wir haben es mit einer Krise der Anrufbarkeit zu tun, und mein Nachdenken hat mich dazu verleitet, zu sagen: Religion hat möglicherweise Ressourcen - Praktiken, Räume, Zeiten -, die eine solche Haltung möglich machen.
Warum sind wir nicht mehr "anrufbar"? Das ist ja eigentlich ein Begriff, zumindest aus meiner Wahrnehmung, aus dem religiösen Kontext.
Rosa: Ja, aber nicht notwendig aus dem religiösen Kontext. Ich glaube, wir alle machen diese Erfahrung, dass die intensivsten Momente des Daseins die sind, wo uns plötzlich etwas da draußen zutiefst ergreift, bewegt oder erschüttert. Wenn Menschen sich zum Beispiel verlieben, hat man eine starke Erfahrung dieser Art: Man geht durch die Straße, hat nichts im Sinn, und plötzlich begegnet man jemandem, der einen ins Mark erschüttert. Aber das müssen nicht unbedingt Menschen sein, das kann eine Musik sein, ein Gedanke, den man wahrnimmt, eine Landschaft, durch die man geht. Alle diese Fälle setzen eine gewisse Offenheit voraus.
Ich nenne das auch Berührbarkeit, dass ich von etwas berührt werde. Es bleibt nicht bei dieser Berührung. Lebendigkeit spüren wir immer da, wo das, was uns da anruft oder begegnet, verändert, lebendig macht, weil wir dem auch entgegengehen. Das ist nicht einfach ein religiöser Gedanke - das ist eine lebenspraktische Erfahrung. Die Gesellschaft ist durchzogen von der gegenteiligen Erfahrung, die wir in der Soziologie Entfremdung nennen, die in der Depression eine Radikalerscheinung hat, wo uns nichts mehr in dieser Form anzurufen und zu berühren vermag. Deshalb glaube ich, haben wir es mit einer Krise der Anrufbarkeit zu tun, die nicht einfach eine Glaubenskrise ist.
Nun ist aber die Kirche, insbesondere die katholische, in der es in letzter Zeit viele Skandale und Probleme gegeben hat, nicht unbedingt eine Gesprächspartnerin für Menschen.
Rosa: Das ist absolut richtig. Deshalb spreche ich auch von einer Janusköpfigkeit von Religion. Ich habe das Buch jetzt auch auf Englisch rausgebracht und habe das dort noch mal deutlich ergänzt, weil ich ursprünglich dachte, dass die Negativseiten von Religion deutlich genug sind durch die ganzen Missbrauchsskandale, aber auch durch das, was man aus der Geschichte weiß, dass Religion nicht immer in diesem Modus der Anrufbarkeit oder dem Resonanzmodus funktioniert. Es ist wichtig, sich das noch einmal deutlich zu machen: Religion kann das genaue Gegenteil dieses Vollzugsmodus sein, indem sie den Wahrheitsanspruch verkündet und durchsetzen will.
Also in dem Moment, wo Religion so auftritt, dass sie sagt: Wir wissen, was Gott sagt, weil es in der Bibel steht oder weil der Pfarrer oder die Pfarrerin das wissen, und deshalb musst du als Mensch dieses oder jenes tun. Das ist das Gegenteil von Anrufbarkeit, da ist systematische Schließung zu beobachten. Wenn die dann auch noch mit einer Autorität versehen wird, dass die, die da sprechen, mit einer höheren Legitimation glauben auftreten zu können, dann ist Religion das Gegenteil von dem, worum es mir geht. Dann ist sie nicht Demokratie-Ermöglicher, sondern Demokratie-Schließer oder sogar -Verhinderer.
Aber Religion lebt auch - und zwar alle großen Weltreligionen, nicht nur die christlichen -, von dieser Notwendigkeit, sich zu öffnen und zu hören. Das ist eine Welthaltung, sich zu öffnen für etwas anderes, das ich nicht völlig verstehe, das ich nicht sehen kann und schon gar nicht beherrschen kann. Dafür offen zu sein, sich anrufen und sich verwandeln zu lassen durch ein Anderes - das ist etwas, was nicht nur ein theologischer Gedanke ist, sondern zum Beispiel in religiösen Räumen oder Praktiken auch direkt eingeübt wird. Ich denke da an so etwas wie das Gebet, was eine sehr interessante Haltung ist, weil ich als Soziologe fasziniert war von der Praxis des Betens.
Ich habe mich nämlich gefragt: Ist ein Betender eigentlich nach innen oder nach außen gerichtet. Die für mich wichtige Erkenntnis war, dass es eigentlich in beide Richtungen zugleich geht: Es ist der Versuch, eine Verbindung, so etwas wie eine feine Vibration zwischen dem Innersten und einem umgreifenden Äußeren darzustellen, bei dem ich nicht einfach aktiv Kontrolle oder Beherrschung suche, sondern ich bin gleichermaßen aktiv wie passiv. Ich bin ganz lauschend, aber auch ganz konzentriert. Das war der Punkt, warum ich am Ende geschrieben habe, dass Demokratie vielleicht sogar Religion braucht, weil sie diese Haltung der Anrufbarkeit hat: einem anderen ganz zugewandt sein in der Bereitschaft, sich berühren zu lassen - aber nicht einfach passiv hinzunehmen, was die anderen tun, sondern in der Lage zu sein, zu antworten und sich dadurch in ein Gemeinsames hin zu verwandeln.
Das Gespräch führte Katja Weise. Das komplette Interview hören Sie oben auf dieser Seite - und in der ARD Audiothek.